Liegen lassen lernen

Macht die Welten größer, haben Sie gesagt. Dann gibt es mehr zu entdecken, haben sie gesagt. Und in der Tat: entdeckt habe ich in den letzten Jahren viel. So viel, dass es irgendwann nichts mehr wirklich zu entdecken gab.

Für mein zehnjähriges Vergangenheits-Ich war Starwing auf dem SNES eines der größten, umfangreichsten Spiele. Faktisch allerdings hat das Spiel weder viele Level noch eine besonders lange Spielzeit. Doch als Noob, der sich erst seit kurzer Zeit intensiver mit Videospielen beschäftigte, bekam ich die späteren Stages der schwersten Route nach Venom nie zu Gesicht. Ich war einfach zu schlecht. Doch ich wusste, dass sie da waren, dass ich sie entdecken könnte. Irgendwann, wenn die Zeit reif ist.

Heute erschließe ich viele Spiele eher schlafwandlerisch. Das Vokabular ist mir vertraut und es spielt dabei kaum eine Rolle, wie viele virtuelle Meter zwischen den invisible Walls liegen: Ich weiß, was mich erwartet, ich weiß, was ich tun muss. Aus einer einst spannenden Entdeckungsreise wird eine Checkliste, die ich mit mehr oder weniger viel Freude abarbeite.

Wenn die Welt ein Dorf ist, ist Los Santos eine ambitionierte Telefonzelle. Das größte Missverständnis beim Design von Spielewelten ist wohl, dass nominaler Umfang eine entscheidende Rolle spielen würde. Die Anzahl der Orte und Ereignisse und die Distanz, die theoretisch zu bereisen wäre, ist aber nur wenig ausschlaggebend. Das Gefühl, sich in einer großen, mannigfaltigen Welt zu bewegen, entsteht im Unsichtbaren.

Die HUB-World von Deus Ex: Mankind Divided, eine Miniaturversion von Prag, kommt nicht gegen die Weitläufigkeit von Ubisoft- oder Rockstar-Open-World-Games an. Sie ist klein, in wenigen Minuten durchschritten, und ich kann nicht einmal etwas anders tun, als zu Fuß zu gehen. Doch sie gibt mir die Faszination einer angenommenen realen Größe. Diesmal nicht aufgrund mangelnder Skills, sondern by Design.

Prag ist voll – nicht primär von Menschen und Nebenquests, sondern von Winkeln mit Bedeutung, Türen, die verschlossen sind aber geöffnet werden könnten, Dächer, die zu hoch sind aber erreichbar wären und Pfade, die vielleicht irgendwo hin führen, wenn ich sie nur eröffnen könnte. Dafür braucht Prag keine großen Distanzen oder hundert Kartenmarkierungen. Dafür braucht es eine Gasse, die sich mir verwehrt. Eine Tür, die ich nicht aufhacken kann. Einen Dialog, der sich verweigert.

Warren Spector, der Mensch hinter dem ursprünglichen Deus Ex, hat in einem Interview mit Rock Paper Shotgun mal gesagt

I got a lot more interested in really deeply simulated smaller spaces. I’d rather do something that’s an inch wide and a mile deep than something that’s a mile wide and an inch deep.

Im Übrigen: in einem anderen Interview mit Wall Jump zeigte sich Spector höchst angetan von Zelda: Breath of the Wild. Nicht überraschend, wenn man drüber nachdenkt.

Während Weite abschätzbar und erfassbar ist, bleibt Tiefe oft zunächst verborgen. Ein Ort des Unbekannten. Es ist ein Raum für endlose Möglichkeiten. Als im Demon’s Souls Remake für die PS5 kürzlich eine neue verschlossene Tür entdeckt wurde, gaben SpielerInnen und HackerInnen alles, um heraus zu finden, ob sie echt oder nur Dekoration ist und ob sie sich öffnen lässt. Die Journaille hatte ihre beste Zeit, als sie über die Existenz dieser Tür berichtete und über die Bedeutung spekulieren konnte. Die tatsächliche Öffnung dieser Tür war dann eher eine Randnotiz.

Heute spiele ich „gut“ genug, um theoretisch alle Winkel von Spielen wie Mankind Divided zu erschließen. Aber ich muss meinen Charakter schon ziemlich hochskillen und sehr beobachtungsscharf sein, bis ich wirklich sagen kann, ich hätte alles gesehen. Auch mehrere Runden müsste ich drehen, denn für Immersive Sims üblich kann ich eine Tür, die ich gesprengt habe, nicht mehr hacken und einen Shootout nicht mit einer Schleichstrategie kombinieren. Es wird mir also immer ein Aspekt verborgen bleiben, das Spiel lässt Dinge für mich im Verborgenen.

Dieses Gegenkonzept zur vollständigen Komplettierung hat einen ganz besonderen Reiz. Ich übertrage es mittlerweile auf andere Spiele und ersetze die gamifizierte Checkliste durch etwas kindlich naives. Ich lerne, Dinge liegen zu lassen. Vielleicht komme ich später auf sie zurück, vielleicht in einem zweiten Durchgang – oder vielleicht nie. Das ist eigentlich das Beste. Wenn noch etwas da ist, das ich nicht erschlossen habe. Mein Hirn füllt dieses Fragezeichen mit der Unendlichkeit der Möglichkeiten – mehr Möglichkeiten als jeder Gamedesignerin je in der Lage wäre zu konkretisieren.


Deus Ex (2000) gilt zusammen mit dem geistigen Vorgängern System Shock (1994) und System Shock 2 (1999) als Archetyp der „Immersive Simulation“. Die Deus Ex-Reihe wurde 2011 mit Human Revolution und 2016 mit Mankind Divided vom Entwicklerstudio Eidos Montreal weitergeführt und steht bei Fans und Kritikern hoch im Kurs. Das große Versprechen des im Rollenspiel und Action-Adventure verwurzelten Genres ist das Spiel mit den Lösungsmöglichkeiten und das Angebot, Spielende könnten ihre jeweilige Strategie zum Voranschreiten frei wählen und so ihre jeweilige Spielerfahrung ganz individuell prägen.

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