Trommelnd das Töten vergessen

Horace ist ein Roboter, ein bisschen wie Data aus Star Trek. Naiv, hilfsbereit, aufgeschlossen und immer bestrebt, sich weiter zu entwickeln und zu verbessern. Horace spielt aber auch gerne mit seinen Freunden Videospiele und entdeckt neue Musikrichtungen. Und nicht zuletzt sucht Horace nach seinem Platz in der Welt und muss dabei entdecken, dass er als Killermaschine konzipiert wurde. Und so passiert es, dass dieser liebenswerte Protagonist einen scheinbar unschuldigen alten Mann qualvoll hinrichtet

Ich war nie in der Situation, etwas vergessen zu wollen und weiß deshalb nicht, wie ich mit einem schweren Schicksalsschlag umgehen würde. Geschichten sind aber voll von grausamen Taten, die ihre Protagonisten selbst verüben, erleben oder am eigenen Leib erfahren. Gängige Handlungsstrategien für vom Schicksal Gebeutelte scheinen Alkoholismus, Wahnsinn oder eine Vendetta zu sein. Horace tut all dies nicht. Er spielt Schlagzeug, um zu vergessen.

Ich persönlich finde das plausibel: Ich habe in meinem Leben verschiedene Instrumente ausprobiert und alle haben etwas für sich. Doch mein bevorzugtes Instrument ist das Schlagzeug. Die ungezügelte Wucht, die Körperlichkeit und der Beat, mit dem man den Raum füllt – Schlagzeugen kann ein Rausch sein sein. Es ist animalischer Eskapismus, aber auch völlige Kontrolle. Kontrolle über ein wildes Ungetüm zu haben kann sicherlich ein wenig Halt geben, wenn alles andere zerbröckelt.

Und Horaces Welt zerbröckelt. Ohne in die Details der wundervoll erzählten Geschichte einzugehen, sei gesagt, dass Horace in eine Welt geworfen wird, in der alles verloren ist, was er kannte. Wie ein Kind, das alleine nach der Apokalypse aufwacht, sucht Horace verzweifelt nach Sicherheit und Struktur. Doch weil er nur ein Roboter ist – und noch viel mehr, weil er so naiv ist – wird er auch ausgenutzt. Ein Cocktail von schlechten Entscheidungen, Täuschungen und Pech führt dazu, dass Horace zerrissen zwischen Loyalität, Panik und Zweifeln einen verängstigten alten Mann tötet, der grausam vor seinen Augen dahinschmilzt. Ich hatte Horace zu diesem Zeitpunkt schon ein ganzes Stück bei seiner Menschwerdung begleitet und wurde nun Zeuge, wie er seine Unschuld verliert. Ein Moment wie aus Breaking Bad. Und ich war dieses Mal nicht bloß Zuschauer – ich führte ihn als Spieler sehenden Auges diesem Moment entgegen.

Im Anschluss fährt die menschliche Maschine schweigend durch die grauen Straßen einer entmenschlichten Welt und das ganze Spiel, das bislang vor allem durch Humor und Leichtigkeit bestach, steuert auf düsteren Pfaden ins Ungewisse. Wie kann es jetzt überhaupt noch weitergehen? Mit Schlagzeug natürlich!

Denn nachdem Horace mit seinen Komplizen zurückgekehrt ist, interessiert sich zunächst niemand für die Gefühle der Blechbüchse. Bestenfalls war er ein nützlicher Idiot, der eine brenzlige Situation entschärft hat. Doch dann ist da eine unbeteiligte Nebenfigur. Kein weiser alter Mann, keine empathische Ehefrau oder ein anderer stereotyper Charakter. Es ist jemand, der nicht versteht, was Horace passiert ist, aber erkennt, dass er wie ein Hund leidet. Er weiß nicht, was Horace helfen würde, doch er weiß, was er selbst tut, wenn es ihm schlecht geht. Er spielt Schlagzeug. Deshalb fragt er Horace, ob er es ausprobieren möchte. Horace fühlt sich gesehen, und seine Miene hellt sich ein wenig auf.

Nüchtern betrachtet folgt der Tötung eines Unschuldigen ein Schlagzeug-Minispiel. Es könnte kaum unpassender sein. Doch das Spiel Horace zeichnet seine Figuren so sorgfältig, dass nichts passender erscheint, weil es so persönlich ist.

Und während ich die vorgegebenen Tasten drücke und mich auf den wunderbar klaren Beat konzentriere, vergessen Horace und ich beide für eine Weile diesen markerschütternden Moment, in dem Horace ein unschuldiges Leben nahm. Aber wir vergessen ihn nicht wirklich.

Und dann geht das Spiel weiter.


Wie der kleine Roboter hat auch das Spiel Horace bislang nicht ausreichend Beachtung gefunden. Vom britischen Entwicklerduo Sean Scaplehorn und Paul Helman sieben Jahre lang entwickelt, strotzt das Spiel vor Details, feinem Humor und popkulturellen Anspielungen. Es ist für 2019 für PC und Switch erschienen und nicht nur ein Highlight narrativer Spiele, sondern auch ein erstaunlich kreativer Plattformer. Und so vieles mehr.

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