Noch ein Augenblick im Dunkeln

Wall-Jump-Kollege Matthias Mirlach hat im August 2020 darüber geschrieben, wie mächtig er sich fühlte, als er mit Joanna Dark in totaler Dunkelheit den Fahrstuhl verließ, um die wehrlosen Häscher des Schweinekonzerns Datadyne einen nach dem nächsten aufs Korn zu nehmen. Aber wie ist es, einer dieser armen Tore zu sein? Der Dunkelheit und einem übermachtigen Feind ausgeliefert? Ich weiß das, denn ich habe in viel zu jungen Jahren Unreal gespielt. Es ist nicht gut.

Unreal ist den meisten nur als Name der Grafikengine schlechthin bekannt, denn sie ist schon nach kurzer Zeit vom technischen Hilfsapparat zum eigentlichen Star geworden und dient taussenden von Spielen. Doch 1998 ermöglichte sie nur einem einzigen Spiel, atemberaubend auszusehen: Unreal. Und auch wenn Unreal etwas im Schatten des übergroßen Half-Life stand, ist es ein nicht minder guter klassischer Ego-Shooter mit Singleplayer-Kampagne, Aliens und Horrorelementen.

In Unreal spielt man keinen Master Chief oder Doom Slayer, sondern einen einfachen Gefangenen, dessen Transportschiff auf einem exotischen Planeten bruchlandet. Es gilt nicht, ein Volk zu retten oder das Böse zu vernichten. Als einziger Überlebender muss man schlicht entkommen. Alles erscheint beklemmend und übermächtig, auch die Waffen haben ungewöhnlich wenig Kraft.

Noch zu Beginn des Spiels und bloß mit einer einfachen Pistole bewaffnet versuchte ich, die Energie für irgendwas anzuschalten, oder ein Tor zu öffnen – was man eben so in Egoshootern tut. Ich schritt einen langen, eintönigen Korridor entlang, bog ein paar Mal ab und drückte einen Schalter. Das schien mir schon damals etwas zu hirnlos. Doch beim Zurücklaufen durch den scheinbar unnötig langen Gang hörte ich plötzlich ein Geräusch, das ich nie vergaß. Es klang wie der Countdown zu meinem Ableben, wie eine große mechanische Uhr. Dann sah ich, was das Geräusch verursachte: gleichmäßig nacheinander erlöschende Lichter. Es wurde dunkler und dunkler, der Ausgang war versperrt und ich lief panisch den letzten Lichtern hinterher, doch die Hoffnung, dass wenigstens eines an bleiben würde, war naiv. Völlige Dunkelheit. Völlige Stille. Und ich hatte nur diese schwachbrüstige Pistole.

Nach einem Moment totalen Nichts: Hektische Musik und rote Notlichter. Mir war klar, dass ich nicht mehr allein war. Meine Reaktion war bemitleidenswert. In dem Versuch, Kontrolle über die Situation zu erlangen, drehte ich die Maus wild im Kreis. Dann konnte ich am anderen Ende des Ganges die diffusen Umrisse eines mächtigen Ungetüms ausmachen, das wie der Predator auf mich zuraste. Es war grässlicher und gefährlicher als alles, was mir bisher begegnet war. Ich war eindeutig unterlegen. Wie ein ungelenkter Schwimmer im Ozean, umgeben von perfekt an das Habitat angepassten Raubfischen.

Jeder erinnert solche persönlichen Angstmomente in Videospielen, doch wie ich inzwischen herausgefunden habe, bin ich mit diesem nicht alleine. Die erste Begegnung mit einem Skaarj, dort im dunklen Gang von Unreal, hat sich in das kollektive Gedächtnis von Spielerinnen und Spielern gebrannt. Und jetzt denk mal drüber nach, wie sich die armen Angestellten von DataDyne gefühlt haben müssen, als du voller Selbstzufriedenheit mit deinem Nachtsichtgerät aus dem Fahrstuhl tratst, Matthias.


Unreal stand nicht nur im Schatten des im selben Jahr erschienenen Half-Life, sondern auch des nur einem Jahr später erschienenen eigenen Ablegers Unreal Torunament. Während Horden von Teenager „on a killing spree“ waren und „monster kills“ mit der Sniper in Facing Worlds erreichten, dachte niemand mehr an das viel subtilere, wunderschöne Erstlingswerk, das seinem Namen so viel mehr gerecht wurde. Die Welt von Unreal war unwirklich, fremd und bedrohlich. Und doch fühlte ich mich dort selbst als Alien, als Eindringling in einer unvorstellbaren Welt.

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