Im Krieg ist nicht jeder Soldat

Nur, weil ich virtuelle Krankenhäuser, Pizzerien, Freizeitparks oder Fußballvereine erfolgreich leiten kann, bin ich im wahren Leben noch lange kein begnadeter Top-Manager. Nur, weil ich virtuelle Bestzeiten im Rennwagen oder umwerfende Slam Dunks auf dem virtuellen Basketballfeld zaubere, bin ich im wahren Leben noch lange keine begnadete Sport-Ikone. Und nur, weil ich auf unzähligen virtuellen Schlachtfeldern die Kriege der vergangenen und künftigen Jahrzehnte ausgefochten habe, habe ich im wahren Leben noch lange keine Ahnung was Krieg tatsächlich bedeutet. Die digitale Angst ist keine Angst. Sie ist nicht omnipräsent oder unmittelbar. Sie lässt sich per Knopfdruck ausschalten. Ich habe keine Ahnung, was Krieg bedeutet – daran ändern auch hunderte Filme, Dokumentationen, Bücher oder Videospiele nichts.

Spiel + Krieg funktioniert: Zu den kommerziell erfolgreichsten Videospielen zählen seit jeher Kriegsspiele, die in authentischen und realen Umgebungen spielen. Als authentische Darstellungen vermarktet, bieten sie häufig aber nur eine stark selektive Form des Realismus an, während zentrale Aspekte des Krieges ausgeblendet werden. Im Gegensatz zu den zahlreichen Spielen, die den Fokus auf die militärische Perspektive legen, setzte das polnische Entwicklerstudio 11 bit studios in This War of Mine die zivile Perspektive des Krieges in den Mittelpunkt der Erzählung. „Im Krieg ist nicht jeder Soldat“, lautete der Untertitel des 2014 erschienenen Titels.

Statt Elite-Soldaten steuert man eine Gruppe von Zivilisten: Ressourcenknappheit, Orientierungslosigkeit, Überforderung, Überlebenskampf. Mit fortschreitendem Spielverlauf werden die Spieler*innen dabei immer mehr in moralische Dilemmasituationen getrieben und die virtuelle Erzählung erzwingt eine widersprüchliche Entscheidung nach der anderen. Sie zwingt die Spieler*innen zur Selbstreflektion, lässt eigene (vermeintlich unumstößliche) moralische Maßstäbe ins Wanken geraten und lässt Egoismus und Altruismus in bester Thomas-Hobbes-Manier aufeinanderprallen.

Kritische Antikriegs- und Friedensspiele, wie This War of Mine, Papers, Please, Valiant Hearts: The Great War oder Spec Ops: The Line bieten eine Alternative zu kommerziellen Mainstream-Titeln mit militärischem Grundthema. Sie ermöglichen auf eine aktive Weise – im Vergleich zu den lediglich passiv konsumierten Darstellungen und Abbildungen aus Filmen, Serien und Büchern – die Berührung und den Umgang mit Geschichte, Konflikten und Krieg. Wissen darüber, was Krieg tatsächlich bedeutet, wie er sich anfühlt, was er mit einem selbst macht, erlangt man, trotz aller Immersion und Interaktivität, aber auch durch das Medium Videospiel nicht. Dennoch können kritische Videospiele eine besondere Rolle bei der Bildung des kulturellen Gedächtnisses an vergangene Kriege einnehmen. Und sie können ebenso dabei helfen, Empathie zu fördern und ein Bewusstsein für Krieg zu schaffen. Auch für einen völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, in dem freiheits- und friedliebende Zivilisten um ihr Leben und das ihrer Familie und Freunde fürchten müssen. Im Krieg ist nicht jeder Soldat.



Aufruf der 11 bit studios vom 25. Februar 2022: „Heute haben russische Streitkräfte das freie Land Ukraine – unser Nachbarland – angegriffen. Als polnisches Spielestudio und Entwickler des weltweit anerkannten Anti-Kriegsspiels This War of Mine – eines Spiels, das das Leid und Elend der vom Krieg betroffenen Zivilisten direkt anspricht – möchten wir hiermit unsere Unternehmenserklärung bekannt geben: Wir stellen uns gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine. Bloße Worte wären jedoch leer ohne eine sinnvolle Handlung, und es muss schnell gehen. Die Aktion sieht also folgendermaßen aus: In den nächsten sieben Tagen werden alle Gewinne aus This War of Mine, allen DLCs, in allen Stores und auf allen Plattformen in einen speziellen Fond fließen. In einer Woche wird dieses Geld an das ukrainische Rote Kreuz gespendet, um die Kriegsopfer in der Ukraine zu unterstützen.“Die Spendenaktion ist mittlerweile beendet,. Daei konnten 850.000 Dollar gesammelt werden, die bereits an das ukrainische Rote Kreuz überwiesen wurden.

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