Drücken Sie die Zwei

Warteschleifen sind leider keine Videospiele. Vielleicht muss ich einen Kinderarzttermin verschieben und die Gebäudeversicherung anrufen. Mails sind keine Option, Homepageformulare schon gar nicht. Es gibt keine anderen Weg als den Griff zum Hörer. Ich wähle die Nummer und warte. Schlecht geloopte Musik, vermengt mit Störgeräuschen, dringt in mein Ohr. Nach einer automatisierten Begrüßung, die mir bestätigt, dass ich dort bin, wo ich sein möchte, gelange ich noch immer nicht an ein menschliches Ohr. Eine Art Microsoft SAM von 1992 teilt mir sehr langsam viele irrelevante Details mit. Ich kann mich auf der Homepage informieren. Die Sprechzeiten sind von bis. Wenn ich ein Rezept benötige, kann ich das online beantragen unter. Wenn ich mit einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter verbunden werden möchte, soll ich in der Leitung bleiben. Ich möchte immer mit einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter verbunden werden und bleibe immer in der Leitung.

Wenn ich Fragen zu meiner Versicherung habe, soll ich die Eins drücken. Wenn ich einen Schaden melden will, soll ich die Zwei drücken. Wenn mein Kind sich mit dem neuartigen Coronavirus infiziert hat, soll ich die Drei drücken. Wenn ich mich über Tarife informieren will oder beabsichtige, einen neuen Vertrag abzuschließen, drücke ich die Vier. Für Lob und Kritik drücke ich bitte die Fünf. Mit der Rautetaste gelange ich in das Hauptmenü zurück.

Doch noch bevor ich richtig genervt sein kann, denke ich an Dialogbäume aus Videospielen. In vielen Point & Click Adventures klicke ich bereitwillig jede Option durch, um wirklich alles aus dem Spiel rauszuholen. Warum hole ich nicht mal alles aus diesem Dialogbaum raus? Ich könnte herausfinden, was passiert, wenn ich mein Anliegen an die falsche Adresse richte. Vielleicht kriege ich eine weitere lustige Textzeile aus den Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern gepresst, mit denen ich sicher bald verbunden werde. Was passiert wohl, wenn ich dieselbe Person zweimal mit exakt demselben Anliegen anspreche, Wird sie auch dasselbe entgegnen oder hat die Gebäudeversicherung ein paar Easter Eggs eingebaut, wenn ich abwegige Kombinationen wähle? Was passiert wohl, wenn ich auf die sechs drücke, die gar nicht angeboten wurde? Gibt es dann eine Fehlermeldung, komme ich zurück ins Hauptmenü, ein geheimes Extramenü oder wird gar die Verbindung gekappt? Faszinierende Möglichkeiten tun sich auf. Doch dann erinnere ich, dass Warteschleifen leider keine Videospiele sind und warte geduldig, bis ich mit der nächsten freien Mitarbeiterin oder dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden werde.

Hier könnte der Text nun enden. Doch Kentucky Route Zero ist ein Videospiel, wenn auch eines ohne Herausforderungen. Ein Point & Click ohne Rätsel. Das ganze Spiel über werde ich konditioniert, verschiedene Dialogoptionen zu entblättern. Sie sind meine Belohnung für beharrliches Geklicke und aufmerksames Erforschen. Nach drei mysteriösen Akten starte ich gebannt in den vierten. Der Vorhang geht auf und ich erblicke ein Telefon sowie einen Zettel mit einer Nummer. Natürlich probiere ich andere Nummern zuerst aus, so wie ich in jedem 2D-Plattformer-Level zunächst nach links laufe, doch es hilft nichts.

Es gibt keine anderen Weg als den Griff zum Hörer. Ich wähle die Nummer und warte. Schlecht geloopte Musik, vermengt mit Störgeräuschen, dringt in mein Ohr. Nach einer Begrüßung erhalte ich Optionen. Meine Warteschleifenerfahrung kickt rein und ich versuche, so schnell wie möglich zu entkommen, doch dann erinnere ich mich daran, dass ich ein Videospiel spiele und versuche freudig, zu erforschen. Es gelingt mir nicht. Die Immersion zieht mich in altbekannte Verhaltensmuster. Ich ertrage es nicht. Die Langsamkeit. Ich muss über mich selbst lachen, wie ich von diesem wahnsinnigen und wunderbaren Spiel dazu gezwungen werde, einen Warteschleifensimulator über mich ergehen zu lassen. Schließlich gelange ich in ein sonderbares Menü. Wenn ich etwas über die Flora und Fauna des Flusses erfahren möchte, soll ich die Zwei drücken. Wenn ich ein unbekanntes Geräusch identifizieren möchte, die Drei. Wenn ich eine Schlange halte, soll ich die Vier drücken. Das interessiert mich. Es ist immer noch ein Videospiel. Und zwar Kentucky Route Zero! Natürlich werden sich besondere Momente ergeben, ich muss nur dran bleiben. Ich entscheide mich dafür, ein unbekanntes Geräusch identifizieren zu wollen. Nun wird mir unter anderem angeboten, eine Taste zu drücken, falls ich derzeit Orgelmusik höre. Tue ich nicht. Das scheint mir eine weitere gute Wahl zu sein.

Die Stimme am anderen Ende, die sich gar nicht nach Microsoft SAM anhört, beglückwünscht mich und fragt mich, ob sich die Musik ungefähr so anhöre. Nun höre ich minutenlang Orgelmusik. Das ist, was ich tue. In einem Videospiel. Oder ist es ein Videospiel? Ich vermute, ich werde gerade wahnsinnig und hämmere wild auf den Tasten herum. Nichts unterbricht die Orgelmusik. Endlich ist sie vorbei. Die Stimme fragt mich, ob die Musik, die ich vorgegeben habe, gehört zu haben, genauso geklungen habe. Ich antworte… wahrheitsgemäß!? mit „nein“, indem ich die Zwei drücke.

Mit gelassener Freude wird mir gesagt: „Sie ist aber schön, oder nicht? Lass sie uns noch einmal anhören!“ Und die Musik beginnt von vorne.

Warteschleifen sind leider keine Videospiele.


Kentucky Route Zero ist ein zwischen 2013 und 2020 in insgesamt fünf Akten veröffentlichtes Spiel von Cardboard Computer und wird – natürlich – von den Trüffelschweinen von Annapurna Interactive vertrieben. Die besondere Erfahrung lässt sich tatsächlich am besten mit dem Werk von David Lynch vergleichen und ist inzwischen als Komplettpaket in der 2020 erschienenen „TV Edition“ auch für die Switch, PS4 und Xbox ONE erhältlich.

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