Himmelfahrts­elektrobeat

Knapp sechzig Stunden schwimme ich bereits in dieser wunderschön-gefährlichen, endlosen Tiefe. Hin und her, auf und ab, auf der Suche nach wertvollen Metallen, nach Überlebenden oder deren Logs und mindestens nach einem Weg, wie ich in dieser blauen Hölle einen weiteren Tag überleben kann.

Subnautica erzählt die Geschichte vom Absturz eines riesigen Raumschiffs auf einen unbekannten Wasserplaneten, den meine Figur als einzige scheint überlebt zu haben. In der Rettungskapsel schwimmend und nur mit dem allerwenigsten ausgestattet, startet das Spiel wie viele Survival/Crafting-Games, nur eben auf beziehungsweise in einem Ozean. Mit erfrischend viel Tiefgang unterstreicht das Spiel seine Einzigartigkeit mit fantastischer visueller Inszenierung aber insbesondere mit seiner Musik. Nirgendwo wird das deutlicher als zum Grand Finale des Spiels.


Warnung: Es folgen massive Spoiler zum Ende von Subnautica


Subnautica hat mich nicht nur das Fürchten vor der Tiefe gelehrt, sondern auch den Lohn des Fleißes. Nach vielen, vielen Spieltagen und kontinuierlichem Fortschritt (ich baute erst Schwimmflossen, dann Medizinkästen, irgendwann Unterwasser-Fahrzeuge, sogar -Stationen und botanische Gärten), dämmert mir der finale Schritt meiner Reise: Ich werde eine Rakete bauen, mit der ich die Schwerkraft überwinden und die Oberfläche dieses Planeten verlassen kann. Das ist so unglaublich, dass ich es eigentlich für unmöglich halte. Dagegen sah die Konstruktion meines atombetriebenen Unterseebootes wie eine Fingerübung aus.

Die meisten Vorgänge in Subnautica fühlen sich angenehm non-game-y an. Es gibt keine Cutscenes und keine invisible Walls. Keinen großen Pfeil, der mir sagt, wo es lang geht, keine willkürlichen Gates oder forcierten Pfade. Mit so viel Nicht-Linearität ist Musik besonders eindrucksvoll, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt kommt.

Ich setze all mein Wissen, meine hart erarbeiteten Werkzeuge und Helfer ein, um fehlende Materialien zu finden, zu kombinieren und meine Fluchtrakete zu bauen. Beginnen muss ich mit einem schwimmenden Startplatz. Allein diese Plattform ist schon größer und beeindruckender als alles, was ich bisher konstruiert habe. Bei der Rakete selbst unten beginnend, folgt der Antrieb. Als ich den Knopf zum Start des Bauprozesses drücke, ertönt ein elektronischer Upbeat, eine Mischung aus Ein-Ton-Arpeggio und rhythmischem Herzschlag, der aber nach wenigen Sekunden ins Echo ausfadet. Eine Stunde später, nachdem ich genug Teile für den Rumpf gesammelt habe, dasselbe. Die Rakete wächst und sieht stetig imposanter aus. Zuletzt baue ich das Cockpit. Wieder fünf Sekunden Techno-Fanfare. Wie ein Riff, das meine Errungenschaft lobpreisen möchte. Ein Schulterklopfen, ein Tusch und eine spannende Erwartung auf das, was kommen mag.

Als der Koloss steht und ich in die Rakete einsteige, fasse ich kaum, dass ich das alles selbst gebaut haben soll. Ich lege Hebel um Hebel um, um die zentralen Systeme und den Start zu initiieren. Ich bereite noch eine Zeitkapsel mit einer Nachricht vor, in der ich festhalte, dass mir dieser feindliche Planet auf eine seltsame Art ein zu Hause geboten und mich hat wachsen lassen.

Ich setze mich in den einzigen Sessel im Raum, beginne das Startprotokoll. Der Elektrobeat ist zurück. Aber diesmal länger als vorher, ich erkenne, dass es ein Intro zu einem längeren Track ist. Flächig-melodische Synths werden geschichtet, klettern die Tonleiter nach oben, bauen Mehrklänge und Spannungen auf. Der Countdown startet, ich lehne mich zurück. Auf der halb-verglasten Kuppel sehe ich zum ersten Mal die einzigen fliegenden Kreaturen des Planeten aus der Nähe, weil sie wie Tauben auf dem Dach verweilen, dann aber, durch die Raketenvibration aufgeschreckt, wegfliegen. Der Beat dropped. Der Countdown erreicht null. Meine Augen sind weit. Mein Herz bleibt kurz stehen. Liftoff.

Ich bin auf dem Konzert meiner Lieblingsband, im ersten Takt des Refrains und will aus voller Lunge mitsingen. Ich kenne jedes Wort und gehe in den Wogen der Hysterie selig unter. 

Mein Schicksal liegt jetzt nicht mehr in meinen Händen, ich muss dieser Band, sorry, dieser Rakete vertrauen. Wir heben tatsächlich ab, erreichen in Sekunden unglaubliche Höhe, durchstoßen die Wolkendecke, die Sicht wird schwarz. Ein orbitales Trümmerfeld fügt der Rakete Schaden zu, für einen Moment ist nicht klar, ob das nicht doch ein Himmelfahrtskommando war. 

Doch dann: Ruhe. Seichte chorale Klänge, als sich meine Rakete gen Umlaufbahn dreht und ich den Planeten nach langer, langer Zeit wieder von oben sehe. Ich setze einen Kurs zum nächsten „Interstellaren Phasentor“ – die erste Station auf dem Weg nach Hause. Mein Raumschiff geht in den Hyperspace, die Musik wieder über in den Uptempo-Beat. Ich grinse über dasselbe Gesicht, über das ich eine Träne rinnen spüre.


Subnautica, entwickelt von Unknown Worlds Entertainment, war vier Jahre lang im Early Access und konnte bei offiziellem 1.0-Release in 2018 ganz offensichtlich erfolgreich davon zehren. Simon Chylinski zeichnet sich verantwortlich für den Soundtrack von Subnautica. Leider muss man hier Kunst und Künstler hart voneinander trennen – nach einigen sehr problematischen Aussagen wurde der Komponist gefeuert. Der Nachfolger Subnautica: Below Zero ist seit dem 14. Mai 2021 erhältlich. 

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