Forget About Freeman!

„Forget about Freeman! We are cutting our losses and pulling out! Anyone left down there now is on his own! Repeat: if you are not already, you are–“

Der Satz wurde nicht mehr zu Ende gebracht. Nie hat mich eine Zeile in einem Spiel so aus der Fassung gebracht und nachhaltig beeindruckt wie diese. Als ich die entsprechende Stelle für diesen Text bei YouTube anschaute, war es exakt so, wie ich es 20 Jahre zuvor erlebt und bis heute erinnert habe. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man den zeitlichen Kontext betrachten, in dem Half-Life erschien sowie mein damaliges Alter. Half-Life war das erste Spiel, das mir seine Geschichte in Echtzeit und mittels der Umgebung erzählte. Als es 1998 erschien, waren Zwischensequenzen hochgradig angesagt. Echte Schauspieler durften in Jedi Knight und Wing Commander die Geschichte auskleiden, was die Spielengine offenbar nicht zu leisten vermochte. Doch auch gerendete Sequenzen trugen zur Wertsteigerung von Spielen bei. Im großen Konsolenkrieg zwischen Sony und Nintendo wurden die (zu) vielen Minuten an Filmsequenzen in Final Fantasy VII oft als Beweisstück für die Überlegenheit der PlayStation herangezogen.

Half-Life verzichtete auf den Budenzauber. Nur die Augen und Ohren von Gordon Freeman informierten den Spieler über die Katastrophe gigantischen Ausmaßes, die sich im Forschungskomplex „Black Mesa“ zutrug. Von Beginn an war ich mitten im Geschehen, als der Riss zwischen den Dimensionen geöffnet wurde und Aliens eine Schneise aus Blut und Trümmern durch die Station schlugen. Und während ich in diesem Horrorsetting versuchte, zu überleben, schnappte ich eher am Rande Bruchstücke davon auf, was eigentlich passiert war. Das herausragende Sounddesign und die geskripteten Sequenzen boten einen Ausblick auf das, was mich erwartete und betteten das Erlebte in einen größeren Storyzusammenhang ein. Ich war jung und hatte wenig Erfahrung mit dieser Art von Videospiel und dementsprechend keine Distanz zum Geschehen. Ich war Gordon Freeman und ich wollte aus Black Mesa fliehen. Und so gelang es dem Spiel, mich in die Irre zu führen: Ich hielt es für eine positive Nachricht, als mir andere Überlebende berichteten, dass das Militär geschickt wurde, um mich und alle anderen zu retten. Natürlich war es anders: Die Wissenschaftler, die sich in ihren Büroräumen vor den grässlichen Aliens verschanzt hatten, liefen erleichtert in Richtung der Soldaten, die der Freude mit einigen gezielten Salven aus ihren Maschinengewehren ein jähes Ende setzten.

Der Vorfall sollte vertuscht werden. Niemand, der erlebt hatte, was sich zugetragen hatte, durfte überleben. Somit war nicht nur die Hoffnung auf Rettung fort, ist hatte mich nun zusätzlich zu den Monstern gegen eine Truppe gut ausgestatteter Soldaten zur Wehr zu setzen, die es vor allem auf eine Person abgesehen hatten: Gordon Freeman. Mich. Mit der Zeit fing ich Funksprüche ab und verfolgte ihre Gespräche, ihre Stratergie änderte sich und sie fuhren immer schwereres Geschütz auf, um mich zur Strecke zu bringen. Es ist nicht einfach ein Shooter mit verschiedenen Levels, die man durchläuft. Es ist eine Geschichte, so immersiv, dass ich alles daran setzte, nicht gefasst zu werden. Die Soldaten wirkten echt, das Setting war (trotz Aliens) realistisch – Half-Life war eine Offenbarung, was Videospiele sein können. Und als es scheinbar nicht mehr schlimmer werden konnte und die Soldaten den ganzen Komplex aus der Luft bombardierten, um Freeman und alles andere unter den Tümmern zu begraben, kam der furchterregenste Funkspruch aus der Box eines Militärradios, voller Störgeräusche und gerade so auszumachen: „Forget About Freeman. We are pulling out.“

Das Militär hatte alles riskiert, um mich zu fassen. Egal, wie viele ich von ihnen erledigte, sie blieben dran. Wenn sie von diesem Ziel abrückten, konnte das nur das Schlimmste bedeuten. Plötzlich vermisste ich meinen bis daher schlimmsten Feind – die Soldaten waren skrupellos und gefährlich, aber wenigstens waren sie menschlich. Eine Verbindung zur echten Welt. Der Abzug der Truppen machte Black Mesa mit einem Schlag zum verlassensten, gefährlichsten und düstersten Ort auf der ganzen Welt. Ich war ernsthaft in Angst. All das passierte zu Beginn eines neuen Kapitels, in die das Spiel unterteilt ist. Der Name des Kapitels wurde nüchtern und trocken über dem Spielgeschehen eingeblendet: Forget About Freeman.


Half-Life von Valve revolutionierte 1998 Shooter und Computerspiele als Ganzes. Schon beim Spielen wusste ich, dass ich etwas nie Dagewesenes spielte. Die Art des Storytellings war ein massiver „Game-Changer“ für die Industrie. Bis heute halte ich es für eines der besten Spiele aller Zeiten und persönlich auch deutlich dem etwas zerfaserten und überdimensionierten Nachfolger deutlich überlegen. 2012 veröffentlichte ein Fan-Projekt das Remake „Black Mesa“, das von Valve genehmigt wurde und nach liebevoller Detailarbeit dieses Jahr als die definitive Version eines brillianten Klassikers erschien, das sogar den ernüchternden letzten Teil des Spiel komplett neu erstellt hat.

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