Ein Königreich für einen Schlossgarten

Habe Spaß!“ ist ein absurder, widersprüchlicher Appell, auf gleicher Höhe mit seinen Geschwistern „sei spontan!“ und „denk nicht dran!“. Wer glaubt, Emotionen und Gedanken mittels simpler Anweisungen steuern zu können, ist naiv, psychotisch oder ein Videogame-Tutorial.

Dabei schien alles auf einem so guten Weg, als 1996 Super Mario aus der Röhre zum ersten Mal in die dritte Dimension des Schlossgartens von Princess Peach hüpfte. Denn der Paradigmenwechsel von 2D nach 3D brachte nicht nur technische Herausforderungen mit sich. Eine ganz neue Sprache musste gefunden und vermittelt werden. Eine, die Interaktion bedeutungsvoll und befriedigend ausdrücken kann. Genug vom simplen „Gehe nach rechts zum Ziel“; eine Aufgabe, die viel Reaktion aber wenig Entscheidungen abverlangt. Jetzt, mit nur einer Dimension mehr, potenzierten sich die Möglichkeiten und Fragestellungen der Spielwelt und ihrer Interaktion explosionsartig.

Die Branche huldigt oft und gerne Level 1-1 aus Super Mario Bros. als Vorzeigeexemplar eines intuitiven Tutorials. Ich behaupte, der Schlossgarten aus Super Mario 64 ist das eigentliche Kronjuwel aller Einstiegslevel, in dem Nintendo vor allem von zwei Dingen Gebrauch machte: Raum und Zeit.

Nach einem kurzen aber effektiven Intro springt Mario aus seiner ikonischen Röhre hinein in den Schlossgarten der Prinzessin, der weder mit Gegnern noch ernsthaften Gefahren gefüllt ist. Kein großes Ereignis am Horizont, von dem Mario sich bzw. ich mich anziehen lassen muss, kein Pfeil oder Wegweiser, nicht einmal Musik. Diese Ruhe. Diese Freiheit. Nur meine Neugier und die erwartungsvolle Ganzkörperatmung des Klempners.

Wie zufällig laufe ich los, teste einen Knopf aus und springe. Erst kurz, dann lang, dann an einen Baum und hoppla – Mario kann Bäume erklettern. Ich will weiter und mache einen Handstand in der Baumkrone. Eindrucksvoll und ausdrucksstark. Ich habe das alles selbst gemacht, begriffen und will es weiter ausprobieren. Laufen, langsam, schnell, (was macht dieser Knopf?) und hey – im Wasser kann ich schwimmen und tauchen!

Es fühlt sich gut an, durch den Schlossgarten zu navigieren, auch wenn ich noch nicht genau weiß wohin und wozu, denn ich will mich hier ausprobieren um meiner selbst willen. Spielen, um des Spielens willen, nicht, weil mir jemand sagt, dass das so geht. Meine Motivation kommt aus mir, sie ist intrinsisch. So habe ich als Kind gespielt, so habe ich spielen erlernt.

Mit seinem Respekt vor dieser scheinbar zweckfreien Erfahrung behandelt mich ein Videospiel zum ersten Mal als eine Person mit Selbstwirkung, Entscheidungs- und Lernfähigkeit; kurz: als einen Erwachsenen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein anderes Spiel davor oder danach jemals so wenig offensives Tutoring im Tutorial-Level gewagt hat. Selbst die Nachfolger in der Haupt-Mario-Reihe beginnen alle mit einem klaren Ziel, Textboxen und „Simon says“-Abschnitten.

Es mag sein, dass sich Videogames über die Jahre einem immer größeren Spannungsfeld ausgesetzt sehen. Erfahrene SpielerInnen gegen Noobs, Langeweile versus Überforderung, Frust und Erfolg und nicht zuletzt das Buhlen um Geld und Zeitressourcen. Vielleicht hätte ein Schlossgarten keinen Platz mehr im modernen Gamedesign, vielleicht war dieser Trick zu stark gekoppelt an den 2D/3D-Wechsel, der so nie wieder vorkommen wird.

Nintendo hat zu Beginn der (performanten) 3D-Ära mit diesem Einstieg eine überragende Balance geliefert. Zum Glück sind die daraus entstandenen Erkenntnisse nicht vollständig Setpiece-Korridoren und „Press X to pay respects“-Aufforderungen zum Opfer gefallen – in moderner Form kann man den Geist des Schlossgartens in Werken wie Breath of the Wild, Dark Souls oder auch Subnautica wiederfinden. Spiele, die ihrerseits einen gewaltigen Fußabdruck in der Spielelandschaft hinterlassen haben. Sie stehen auf den Schultern von Riesen und wurden selbst welche. Auf welchen Schultern aber Super Mario 64 seinerzeit hätte stehen können, um so eine Perfektion zu erschaffen, wird mir immer ein bewundernswertes Mysterium bleiben.


Wer Super Mario 64 nicht kennt, ist entweder sehr frisch auf der Welt oder hat die letzten Jahre als EinsiedlerIn verbracht. Das 3D-Debut des Nintendo-Maskottchens Mario kam zusammen mit Pilotwings 64 als eines der ersten für das 1996 in Japan und den USA gelaunchten Nintendo 64 heraus, Nintendos erste Konsole mit genügend Performance für flüssig spielbare 3D-Welten. Das Spiel wurde erneut als erweitertes Remake 2004 für den Nintendo DS und dieses Jahr als 1-zu-1 Re-Release in der Super Mario 3D All-Stars Collection für die Switch veröffentlicht.

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