Alles auf Anfang

Es ist 1998, ein Haufen grauer Plastik-Cartridges liegt vor mir auf dem Boden. Heute stehen mir nur zwei Stunden TV-Zeit zu, die ich mit Gaming verbringen will und ich versuche mich zu entscheiden. Ich habe sie alle bereits gespielt, bis zum Ende. Die Welten, aus denen ich wählen kann, sind mir vertraut. Ich entscheide mich für Wave Race 64, lösche den Speicher und fange von vorne an.

Heiliges Kanonenrohr, Spielstände löschen? Hart erkämpfte Siege, Punkte, freigeschaltete Inhalte einfach wieder zurücksetzen? Sind Sie sicher? Dieser Vorgang kann nicht rückgängig gemacht werden. Everything not saved will be lost.

„Vanilla“ nenne ich diesen Zustand, an dem alles zurück gesetzt ist. Warum ich das ausgerechnet bei Wave Race 64 tue, einem Rennspiel, ist mir manchmal selbst ein Rätsel. Ich kann nach dem Reset halt nicht mehr sofort die höchste Meisterschaftsklasse fahren, muss vorne anfangen. Jede zweite Runde gibt es ein befriedendes „Pling“, weil ich im Vorbeijetten neue Rundenrekorde aufgestellt habe. Kein Kunststück, ohne vorige ernstzunehmende Bestzeiten. Die ersten, leichteren Modi meistere ich im Schlaf, die Herausforderung liegt mehr und mehr in der Suche nach spielerischer Perfektion.

Das ganze fühlt sich an wie ein Hybrid aus Nostalgie über meine ersten Schritte im Game und dem Meistern des Spiels durch Stunden um Stunden Erfahrung. Das verleiht dem Prozess manchmal eine solche Dynamik, dass der Schwung mich spielend über vorige Leistungslimits hinaus trägt. Mein Ich aus der Vergangenheit schaut zu mir auf und fragt, wer ich sei. Ich antworte: „Ich bin Du, nur stärker“.

Und dann gibt es da noch die Story. Nein, Wave Race 64 hat keine eigene Story im engeren Sinne, wie käme es dazu. Aber ich habe eine: Die Geschichte meiner eigenen Heldenreise von Noob bis Pro, von Scheitern bis Überwinden von einer virtuellen Welt und deren Eroberung. Nur der Reset lässt mich diese Reise, zumindest teilweise, erneut durchleben.

Manche Games bringen die Qualität des „Wiederspielwertes“ eher mit als andere. Sport-, Renn- und Puzzlespiele sind dafür prädestiniert, da sie im Kern systemisch arbeiten und jederzeit neue und einzigartige Szenarien erschaffen können. Klar, auch das hat Grenzen, selbst die cleverste KI kann vorhersehbar werden und irgendwann sind ausgefallene Situationen nur noch ein Haufen Déjà-vus. Allerdings gilt das in erster Linie für finite Single-Player-Games und wenn man das Spektrum von Achievement-Systemen und Challenge-Runs außer Acht lässt. Das hält sogar dreißig Jahre alte Spiele auch ohne Updates und DLCs jung.

Wer sich das Meistern eines Games nicht zur Aufgabe gemacht hat und trotzdem Zeit mit dem Werk verbringen will, erhält zum Glück mittlerweile viele kleine und große Anreize, das zu tun. Auch Story-getriebene Spiele haben sich viel vom Kuchen der Systemik abgeschnitten und glänzen mit Variantenreichtum. Nicht zuletzt „New Game Plus“, oder kurz NG+, lässt sich als Hauptspielvariation-nach-dem-Durchspielen-Modus in vielen populären Titeln wiederfinden. Die Anzahl von Stunden, die in ein durchschnittliches Game gesteckt werden kann, ist in den letzten Jahren nicht geringer geworden. Bei Rollenspielen ist es sogar Gang und Gäbe, mit einem neuen Character-Build die bisher noch nicht erforschten Facetten des Gameplays zu erproben. Dafür muss das Abenteuer bei Null anfangen – in frappierender Verwandtschaft zu der Idee, Spielstände zu bereinigen.

Etwas neu zu beginnen, ein Buch erneut zu lesen, einen Film noch einmal zu schauen, ist ein gar nicht so ungewöhnlicher Vorgang. Es ist ein Vergnügen, der Vergnügung wegen. Es scheint nur so, dass sich die Dinge wiederholen, denn die Perspektive auf die Dinge hat sich entwickelt. Die Augen sind offen und immer noch gierig. Und manchmal gibt es nur dann mehr zu entdecken, wenn ich das bisher Entdeckte wieder verschwinden lasse. Ein bisschen hätte ich mir seinerzeit auch gewünscht, die Erinnerung an meine Spielerfahrung ebenfalls zumindest auf Eis legen zu können, um die ersten faszinierenden Schritte noch einmal unbedarft zu erleben. Noch einmal ein leeres Gefäß sein und alles aufsaugen. Wirklich alles auf Anfang.


Wave Race 64 war 1996 einer der ersten Titel für das neu erschienene Nintendo 64. Seine Anfänge hatte die Reihe auf dem ehrwürdigen Game Boy als Micro-Machines-ähnlicher Racer, demonstrierte auf Nintendos erster 3D-Maschine aber eindrucksvoll Next-Gen-Grafik samt Wasserphysik und überraschend vielschichtigem Gameplay. Der 2001 für den GameCube erschienene Nachfolger Wave Race: Blue Storm konnte Fans und Kritiker überzeugen, hatte aber längst nicht den Hit-Character seines Vorgängers. 2018 sorgte Wave-Race-Producer Shinya Takahashi in einer Interview-Antwort für große Erwartungen auf ein neues Wave Race für Nintendos Switch. Bislang blieb es bei der Erwartung.

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