Suchtpotenzial

Nur eine Runde noch… – diesen, die eigentliche Sucht verniedlichenden, Gedanken kennen Strategie-Freunde nur zu gut. Ich habe ihn in den letzten 20 Jahren nicht nur verinnerlicht, nein, ich behaupte sogar, ich habe ihn exzessiv kultiviert. Der Sonnenaufgang nach einer Nacht mit Civilization ist nicht etwa eine Mahnung meiner inkonsequenten Haltung, er demonstriert lediglich, wie viel Spaß ich wieder hatte. Für die einen ist es unverantwortlich, übermüdet in der Schule, der Hochschule oder auf der Arbeit zu sitzen. Für mich ist es unverantwortlich, den aggressiven Drohgebärden der ägyptischen Herrscherin kein Einhalt zu gebieten.

Bisher wurde mir viel Unverständnis für dieses Verhalten entgegengebracht. Neuerdings aber habe ich einen ungewöhnlichen Verbündeten. Schon als ich selbst für einige Stunden in dem neuen Action-Adventure mit Link versunken bin, ist mir die starke Faszination aufgefallen, die von The Legend of Zelda: Breath of the Wild ausgeht. Dieser Abenteuer-Spielplatz lädt gerade dazu ein, endlos viele Stunden darin zu versinken, ohne ein wirkliches Gefühl für Zeit und Raum zu behalten. Die Welt ist einfach zu weitläufig und die Möglichkeiten sind zu vielfältig. Bewusst wurde mir dieses Potenzial aber erst viel später.

Mein Freund spielt eigentlich selbst keine Videospiele. Und die meisten Games, die er angefangen hat, lässt er nach kurzer Zeit links liegen. Ganz zu schweigen von der überfordernden Steuerung, die in modernen Spielen oft sehr komplex ist. Ich habe das alles von kleinauf verinnerlicht. Ich bin mit 3D-Spielen aufgewachsen und weiß, wie ich eine Karte mit Wegpunkten lesen muss. Ich weiß, worauf ich achten muss, wenn ich durch die Welt spaziere. Und ich kenne jedes Zelda-Spiel, seine Figuren und Regeln. Für ihn aber ist das alles fremd.

Und trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen saß er seinerzeit bis halb fünf vor dem Fernseher und hat versucht, endlich das Vergessene Plateau verlassen zu können. Er hatte die Zeit völlig aus den Augen verloren. Behauptete er zumindest. Er erschrak kurz und wir gingen noch für ein paar Stunden schlafen. Ich war völlig fasziniert davon, wie er sich hat hineinziehen lassen, obwohl das Spiel kein Zuckerschlecken ist. Obwohl er immer wieder an Grenzen stößt, ihm Kämpfe zu schwer werden oder er die Orientierung verliert.

Ihn hatte das Zelda-Fieber gepackt und er sich in die Switch verliebt.

Kurz nach diesem Erlebnis wollte ich mit ihm auf eine Party. Ich war spät dran und er wollte vorher noch baden. In unserem Telefonat sagte ich, dass sei kein Problem, weil ich noch unterwegs bin. Als ich (eine halbe Stunde später!) zu Hause war, musste ich allerdings feststellen, dass er immer noch nicht fertig war. Er behauptete dann, wir hätten ja gerade erst telefoniert. Aber ein Blick auf dem Fernseher verriet mir schnell, wo das tatsächliche Problem war: Das Abenteuer mit Link war gerade wichtiger – und ich ertappte mich plötzlich dabei, wie mir jenes Gezeter über die Lippen kam, dass ich mir von meinen Eltern immer anhören konnte.

Nun hätte ich das klar als Einzelfall abtun können. Aber einem Freund ist etwas ganz ähnliches passiert. Auch seine Switch war seit dem meistens belegt und er muss sich eine andere Beschäftigung suchen. Wir waren uns übrigens auch beide einig, dass es nur schwer zu ertragen ist, unseren Lieben beim Spielen zuzuschauen. Ständig dieses sinnlose Erkunden, dieses Gekoche und diese Unfähigkeit. Und dann am besten noch mit sich selbst reden: „Hmm, drei Körbe und in zwei von ihnen sind Äpfel – was das wohl bedeutet?“, „Guck mal, in diesem Raum geht es nicht weiter“ oder, mein Liebling: „Das Spiel ist doof, das geht gar nicht!“

Und dann war da noch meine Schwester. Anlässlich ihres 30. Geburtstag habe ich ihr einen langen und sehr persönlichen Brief geschrieben. Dazu gab es unter anderem noch ein Mixtape im USB-Format – ebenfalls sehr persönlich. Unser Verhältnis war immer etwas schwierig. Wir mögen uns natürlich trotzdem sehr und das nicht erst seit unseren gemeinsamen Ausflügen auf den verschiedenen Nintendo-Konsolen. Ich habe sie als älterer Bruder sehr geprägt, aber war nicht immer fair. Nun, ich werde älter, reflektiere mehr und versuchte damit irgendwie deutlich zu machen, wie stolz ich auf sie bin – die ist nämlich wirklich dufte.

Auf meine Frage, ob sie denn auf dem USB-Stick alles gefunden hat, schrieb sie lediglich: „Ich hab mir an dem Tag schon alles angehört und will noch angemessen antworten, aber irgendwie kommt immer etwas dazwischen… Haus kaufen, Wildpferde zähmen, Feuerrüstung bezahlen, mich versehentlich x-mal selbst töten – Breath of the Wild zerstört meine Fähigkeiten, Prioritäten zu setzen. Und gestern habe ich herausgefunden, dass die Reichweite für das Wii U Gamepad bis ins Schlafzimmer reicht…“

Es dauerte noch Wochen, bis ich eine Antwort bekam.

Mir war damals schnell klar, warum die Switch nur mit so wenigen Spielen erschienen ist: Für mehr als dieses eine (um sie zu knechten) reichte die Zeit sowieso nicht. Und seit dem Tag, an dem mein Freund das Spiel endlich durchgespielt hat, werde ich mit Fragen gelöchert, wann es endlich weiter geht. Mein Hinweis, dass die Entwicklung einfach Zeit braucht, versteht er bis heute nicht. Die Süchtigen wollen mehr von dem Stoff. Nintendo, du hast ein Monster geschaffen!


The Legend of Zelda: Breath of the Wild erschien im März 2017 für Nintendo Switch und Wii U. Das Action-Adventure kehrt in gewisser Hinsicht zu den Wurzeln der Reihe zurück. Es bietet eine große, offene Welt mit sehr entschlacketen Spielmechaniken. Und es gehört nicht ohne Grund zu den besten Spielen aller Zeiten. Der direkte Nachfolger soll voraussichtlich im kommenden Jahr erscheinen. Wer nicht so lange Warten will, muss sich im November mit Hyrule Warriors: Zeit der Verheerung begnügen.

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