Ziege zum Frühstück

Meine erste eigene Konsole war das SNES. Zuvor hatte ich bei Freunden auf dem NES oder dem PC gespielt oder mich auf dem familieneigenen Amiga 500+ mit meinem Bruder abgewechselt, aber das SNES war meins und es stand in meinem Zimmer. Ich hatte es gebraucht von einem Freund mit einer Handvoll Spielen gekauft, doch irgendwann hörte ich von einem ganz besonderen Spiel, das anders, größer und beeindruckender sei als alle anderen. Es war eine übertriebene Schulhofstory, aber als ich im Laden stand und nach dem Spiel suchte, war es nicht bloß einer der üblichen kleinen Pappkartons; es war gigantisch und wunderschön. Es war Terranigma.

Natürlich entsprach das Spiel den Schulhofstorys dann nicht vollumfänglich und doch war ich davon gebannt. Bis dahin waren Videospiele für mich bunte Welten voller Spaß und Herausforderungen, aber niemals waren es Geschichten von solcher Tragweite. Ich musste mein friedliches Heimatdorf nicht bloß verlassen, um einen bösen Zauberer zur Strecke zu bringen. Ich musste die im Meer versunkenen Kontinente zurück ans Tageslicht bringen, sie bereisen und nach und nach das Leben auf den kahlen Planeten zurückzubringen. So viele ethische und existenzielle Fragen wurden auf meine kleine Kinderseele geworfen und ich liebte es. Doch während es in der ersten Hälfte noch eher verspielt zuging, änderte sich alles mit der Nacht in der Eishöhle. Nach einem Lawinenunglück fiel ich in ein tiefes Loch, aus dem es zunächst kein Entkommen gab. Ich wurde von einer Ziege geweckt. Sie führte mich zur Leiche ihres Gefährten führte, der beim Sturz ums Leben kam.

Das Spiel erlaubte mir, einen Ausweg zu suchen, doch es war nur Leerlauf, denn ein Entkommen war faktisch unmöglich. Die Ziege hatte auch keinen Ausweg, aber zumindest einen Plan für die Nacht. Ich sollte mich in ihr warmes Fell kuscheln und am nächsten Morgen zum Frühstück ihren Gefährten essen. Der Protagonist protestierte, das könne sie nicht tun, doch sie erklärte ihm, dass es genau das ist, was sie tun müssten, um zu überleben. Wie die Ziege über ihren toten Gefährten sprach, mit einer Mischung aus tiefer Zuneigung, Melancholie und Entschlossenheit, war einer der prägenden Videospielerfahrungen meiner Kindheit. Es war nicht kitschig, es war nicht badass, es war nicht prätentiös, es war einfach nur tieftraurig und ein bisschen schön. Obwohl das Spiel schon bis zu diesem Punkt schwierige Themen angesprochen hatte, erwischte mich diese Szene ganz besonders. Ich glaube, ich habe in diesem Moment etwas über die Welt gelernt und ein Stück meiner Kindheit ist zerbrochen. Im positiven Sinn. Ich denke bis heute an diese Szene zurück und gucke sie mir lieber nicht auf YouTube an, um sie so zu erinnern, wie ich sie damals erlebt habe.

Schließlich fand die Ziege doch noch einen Ausweg, doch sie selbst konnte die steile Wand nicht hochklettern. Als ich später zurück in die Höhle kam, um sie zu retten, fand ich sie tot neben ihrem Gefährten liegen.


Terranigma erschien 1996 in Europa für das SNES und schloss die Soul-Blazer-Trilogie ab. Es wurde von Enix vertrieben (damals noch eigenständig und nicht mit Square fusioniert). Es gab nie eine Veröffentlichung in den USA.

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