Zwei Geschichten aus dem Brunnen

Über den Brunnen kann ich zwei Geschichten erzählen. Also schnapp‘ dir einen Stuhl und hör‘ zu. Die erste geht so:

Tief unter einer von einem endlosen Sandsturm überzogenen Siedlung lebt eine grausige Kreatur in einem ausgetrockneten Brunnen. Die letzten Bewohner wissen nicht mehr, wie lange sie dort schon haust, denn die Tage fließen ineinander und der Brunnen fördert schon seit Jahren kein Wasser mehr. Durch die verlassenen Hallen und Höhlen raunt ein Flüstern, das jede Hoffnung raubt und auch die Mutigsten in den Wahnsinn getrieben hat. Einst war dies ein prosperierender Ort voller technischer Wunder. Reger Handel mit anderen Dörfern, Wissbegierde und Zuversicht bestimmte das Leben der Bewohner. Doch mit der Kreatur kam der Sand und heute kann niemand mehr das Dorf betreten oder verlassen. Nur die alten Maschinen tief unter der Erde könnten das Wetter kontrollieren, den Fluch bannen und die Kreatur vertreiben. Doch alle, die in der Lage sind, die Maschinen zu bedienen, wurden von der Kreatur in die Tiefe gezogen. Nun ruhen die Hoffnungen auf einem vergessenen und lange Zeit inaktiven Roboter, der einsam in der Wüste erwacht und sich auf den Weg in die Tiefe macht, um die Maschinen zu reaktivieren und die Kreatur zu bannen. Dort unten lauern unbekannte Gefahren, uralte Mechanismen und tiefe Abgründe. Und aus dem Dunkeln blitzen die wachsamen Augen der Bestie.

Die andere geht so:

Tief unter einer von einem endlosen Sandsturm überzogenen Siedlung wohnt einer Kreatur in einem ausgetrockneten Brunnen. Die drei letzten Überlebenden sind eine gigantische lilane Drachendame, der einen Laden betreibt, irgendwer, der sich in seinem Haus verschanzt und ein Frosch, der den ganzen Tag den Boden putzt. Er wischt ihn. Mit Wasser. Woher das Wasser kommt? Der Brunnen ist ausgetrocknet und niemand kann das Dorf betreten oder verlassen. Und was Frosch, Drache und Unbekannter seit Jahren trinken? Man weiß es nicht, aber einem geschenkten Gaul schaut man nichts ins Maul. Vielleicht hat die Drachendame noch ein paar Kisten Sprudel im Lager. Also zieht der nach vielen Jahren aus magischen Gründen plötzlich aktivierte Hilfsroboter los in die Tiefe der Maschine, um den Sandsturm und die Kreatur zu vertreiben und noch mehr Wasser für den schrubbenden Frosch zu besorgen. Das tut er mit einem Schlagstock und einem Wischstock, mit dem er da unten in der Maschine Bälle in Flipperapperaturen ballert, die durch das Geballere Energie freisetzen, mit der er dann die Türen zwischen den Flipperelementen öffnen kann. Und die Kreatur, die alle Kollegen des Roboters in die Tiefe gezogen hat, zieht den tapferen Flipperspieler nicht in die Tiefe, sondern denkt sich eine viel teuflischere Strategie aus: Sie beschimpft ihn fortwährend und baut manchmal neue Flipperelemente auf, um dem Roboter das Leben ein bisschen schwer zu machen. Aber nicht zu schwer. Schließlich soll man ja den Abspann sehen. Und so geht der kleine Kerl durch viele erstaunlich identische Räume, um am Ende eines jeden Bereichs irgendeine Maschine zu aktivieren, indem er auf „A“ drückt. So lange, bis die Kreatur beleidigt abzieht. Und alles ist wieder gut.

Hätten die Leute, die gerne ein lustiges Flipperspiel mit Schwertern machen wollten, doch mal mit den Leuten geredet, die gerne eine Geschichte über eine finstere Kreatur in einem Brunnen erzählen wollten.


Der Ankündigungstrailer zu Creature in the Well hat mir das Spiel als wunderschönen Genremix buchstäblich verkauft. Doch das 2019 für PC, PS4, Switch und ONE erschienene Indiespiel entpuppte sich trotz eines tollen Artstyles und manchen interessanten Gameplaymechaniken als seltsam redundantes Spiel, dessen Storytelling an jeder Ecke vom Gameplay und Leveldesign untergraben wird.

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