Wie Ilsebill und Ikarus

Hochmut kommt vor dem Fall. Buchstäblich im Fall von Ikarus. Sprichwörtlich im Fall von Ilsebill, der „Fru“ des Fischers aus einem plattdeutschen Märchen. Seit ich ein Kind bin, kenne ich diese Geschichten. Und man denkt ja schon in seinem Kinderhirn, dass ihre Torheit ziemlich offensichtlich ist und völlig klar ist, dass das nicht gut ausgehen kann. Was sollen also diese vor Zeigefingermoral durchsetzten Erziehungsgeschichten? Wenn das Fehlverhalten so offensichtlich ist, bezieht dass doch keiner auf sich. Klar flieg ich nicht mit meinen Wachsflügeln zu nah an die Sonne, aber das heißt ja nicht, dass ich den Sprung vom Schuldach nicht locker überstehen könnte. Im Übrigen habe ich mich schon damals gefragt, wie hoch der Depp eigentlich geflogen sein muss, denn erstmal wird es ja mit jedem Höhenmeter kälter. Und bevor man der Sonne wirklich zu nah kommt, kriegt man erstmal ein ganz anderes Problem namens Vakuum. Und auch bei der Firscherfrau habe ich mich schon als Grundschüler fremdgeschämt für das grenzenlose Anspruchsdenken der bräsig daheimsitzenden, nimmersatten Göre. Sie geht nicht mal selbst hin, schickt immer den armen Fischer vor, der allerdings auch nicht den Arsch in der Hose hat, zu widersprechen. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf. Ikarus und Ilsebill: Zu viel gewollt und tief gefallen.

Slay the Spire ist ein Kartendeck-Spiel, das komplexe und befriedigende Kombinationen und Strategien ermöglicht. Ich spiele es seit einigen Tagen mit großer Freude und habe sukzessive mit den drei Standardcharakteren den Abspann erreicht.

Doch das Spiel ist hier längst nicht vorbei. Neben einem Hochschrauben des Schwierigkeitsgrades lassen sich Schlüsselfragmente sammeln, mit denen ein geheimer vierter Akt freigeschaltet wird. Dahinter verbirgt sich eine brutale Herausforderung. Ich habe verstanden, was hier von mir verlangt wird und unmittelbar akzeptiert, dass ich diesen Wahnsinn nicht mitmache.

Heißt das, ich muss mich schon wieder anderen Spielen widmen? Keineswegs! Es gibt noch mehr für mich zu tun: Eine vierte Figur, die nicht zum Freischalten dieses aussichtslosen Bonuskampfes benötigt wird, bietet nochmals ein anderes Spielerlebnis. Das war gar nicht so leicht und ich scheiterte ein paar Mal knapp, doch schließlich hatte ich eine hervorragende Strategie und der Zufall spielte mit und schanzte mir genau die Karten zu, die ich brauchte.

Ich hätte schon wieder längst schlafen sollen, doch es war gut investierte morgige Erschöpfung: Ich pflügte durch die drei Akte wie ein wilder Kriegsgott. Nichts konnte mir etwas. Ich achtete nicht auf die Schlüsselfragmente, ich wollte ja gar nicht in den vierten Akt.

Nun gibt es in jedem Akt einen Bosskampf. Direkt davor wartet ein gemütliches Feuer. Ein Rastplatz, an dem man sich unter anderem heilen kann. Das ist auch sinnvoll vor einem Bosskampf. Wer will schon die ganze Arbeit, in das Deck über drei Akte geflossen ist, auf den letzten Metern zunichtegemacht sehen. Nun, wenn man alle Schlüsselteile haben möchte, muss man an einem der Rastplätze auf die Heilung verzichten. Bisher hatte ich immer dankend abgelehnt und mich am Feuer gewärmt. Am Ende meiner Reise fehlte ein gutes Viertel an Lebensenergie. Es war der letzte Kampf, der mir bevorstand, bevor der Abspann laufen würde. Und doch… es lief doch so gut. Ich flog so sicher über das Meer. Der Fisch hatte jeden meiner noch so überzogenen Wünsche erfüllt. Warum sollte ich jetzt aufhören. Dieses mächtige Deck. Dieser tolle Charakter. Ich war unbesiegbar. Der Boss von Akt 3 erschien plötzlich nicht mehr wie die letzte Hürde, die ich zu nehmen hatte. Er war einfach im Weg auf meiner Reise in den vierten Akt.

Jetzt bin ich müde und habe nichts vorzuweisen außer diesen Text.


Bevor man sich darüber beschwert, dass die Pointe dieses Textes sehr vorhersehbar ist, sei daran erinnert, dass das sind die Geschichten von Ikarus und Ilsebill allemal sind. Slay the Spire hingegen ist es ganz und gar nicht. In dem Deckbuilder von MegaCrit Games aus dem Jahr 2019 muss man viel improvisieren und wird laufend überrascht – manchmal positiv, manchmal sehr negativ.

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