Vergesst uns nicht

Das kollektive Gedächtnis der Gaming-Szene an den Jahrtausendwechsel zeichnet das Bild einer Zeit voller LAN-Partys, auf die man schwere Röhrenmonitore geschleppt hat. Counterstrike Clans wurden im Wochentakt gegründet und dafür Webseiten und edgy Foren-Banner mit eigens dafür antrainierten HTML- und Paintshop-Pro-Skills gebastelt. Shooter und Strategiespiele wurden gemoddet. Und all das mit den Kumpels nach dem Unterricht, denn die Ursprünge dieser Szene waren nun mal männliche Schüler. Dass die immer selben Bilder aufkommen, kann ich verstehen. Die meisten Spieleredakteure scheinen bloß darüber zu schreiben, was sie damals selber erlebt haben. Meine Erfahrungen unterscheiden sich davon allerdings ziemlich, und ich möchte zur Abwechslung von den diverser aufgestellten Teilen der frühen, technikaffinen Gaming-Szene erzählen.

1998 war ich großer Fan der PC-Spiele Creatures und Creatures 2. Etwa zu dieser Zeit ergab sich für mich außerdem die Gelegenheit, das Internet zu erkunden, und das traf sich ganz gut. Ich landete in meiner ersten Online-Community mit anderen Creatures-Fans. Diese bestand gefühlt zur Hälfte aus Frauen, viele davon deutlich älter als ich. Sie leiteten Webseiten, organisierten Treffen und programmierten ihre eigenen Mods. Aus heutiger Sicht denke ich, dass diese Mischung für mich der perfekte Einstieg war, weil es kein Gatekeeping gab und sich alle willkommen fühlen konnten. Ich schnupperte neugierig in jeden noch so komplexen Technikkram hinein, denn Sprüche wie „Du bist ein Mädchen und machst so was?“, die ich später öfter zu hören bekam, gab es hier nicht. Man fand viele Tutorials und hilfsbereite Menschen, die geduldig Noob-Fragen beantworteten. Meine eigenen Modding-Versuche fruchteten zwar nicht wirklich, aber ich wurde durch die Creatures-Community dazu motiviert, mir HTML für eine eigene Fan-Page beizubringen, und Webdesign sollte Jahre später sogar mein Job werden. Mein erstes Community-Treffen fand ebenfalls mit Creatures-Fans statt, auch wenn wir bloß zu viert waren. Ich alleine mit drei älteren Frauen in Frankfurt, wie wir über virtuelle Lebewesen quatschten.

Schön und gut, aber sind diese Erfahrungen nicht bloß eine knuffige Anekdote über ein Nischen-Fandom? Man mag es heute kaum glauben, weil sie traurigerweise so wenig Erwähnung im Spielejournalismus findet, aber die Creatures-Szene war damals groß. Das entsprechende Wiki listet 359 Webseiten zu dem Thema auf, was nur die Spitze des Eisberges ist, weil etwa die deutschen Webseiten, die ich damals besucht habe, größtenteils fehlen. Es gab Mailinglisten, Chat-Räume, Foren und besagte ungewöhnlich aktive Modding-Szene, bei der es mich nicht wundern würde, wenn sie zu dieser Zeit zu den führenden gehörte. Besonders beliebt waren von Fans gestaltete Objekte, die man in die Welt einfügen konnte, um die Norns  damit interagieren zu lassen. Auch umgestaltete Skins oder komplett neue Welten wurden erstellt. Am ehesten vergleichbar war das mit den einige Jahre später erfolgreichen Sims. Damit die Norns mit einem selbst erstellten Objekt interagieren konnten, musste man sich in eine Programmiersprache einarbeiten, und trotzdem haben sich viele Fans daran versucht.

Schön und gut, aber ist das nicht bloß ein dummes Kinderspiel? Der Ruf von Creatures hat sich in den 2000ern leider komplett gewandelt. Nachdem der dritte Teil weniger erfolgreich war, setzte der Publisher mehr auf den Knuddelfaktor als den wissenschaftlichen Ansatz und vermarktete die Reihe als anspruchsloses Tamagotchi. Etwa zu dieser Zeit kam auch die Unterscheidung zwischen Spielen auf, für die man Skill braucht, und den Casual-Games, die der wachsenden weiblichen Zielgruppe zugeschoben wurden. Ich habe das Gefühl, dass mit dieser Neubewertung der Reihe eine Fanszene in eine Ecke gedrängt wurde, die gar nicht zu ihr passte, und dass der große Frauenanteil eine Rolle dabei gespielt haben mag. Dabei ist an Creatures interessant, dass es in den 90ern unter vielen Fans nicht einmal als „Spiel“ galt, weil es einen anspruchsvollen, wissenschaftlichen Ansatz verfolgt hat – von wegen casual! Der erste Teil war eine Lebenssimulation, die ihrer Zeit voraus war, und mit Respekt aufgenommen wurde. Den ersten Artikel dazu las ich nicht in einer Spielezeitschrift, sondern der “Spektrum der Wissenschaft”, die dem Ganzen einen großen Bericht widmete, und über die man die Software direkt bestellen konnte. Richard Dawkins bezeichnete sie als „Quantensprung in der Entwicklung künstlichen Lebens“. Und ich habe durch die Beschäftigung mit Chemikalien, Biologie und der Genetik meiner Norns mehr gelernt als in vielen Schulstunden. Zugegeben, wir übertrieben es manchmal ein bisschen mit dem, was wir dieses künstliche Leben hineininterpretierten. Aber die Projekte der Community waren nicht weniger anspruchsvoll als die Erstellung von CS-Maps kurze Zeit danach.

Das alles scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Es ist schade, dass die Creatures-Community in Rückblicken auf die Entwicklung der Gaming-Szene so häufig komplett ignoriert wird. Meine erste Online-Community, die mich geprägt hat wie keine andere, und die so spannend und vielfältig war. Das hat sie nicht verdient, gerade weil sie zeigt, dass es damals nicht nur pubertierende Jungs waren, die den ganzen Spaß hatten.


In der 1996 für den PC erschienenen Simulation Creatures konnte man mit sogenannten Norns interagieren und ihre Körperfunktionen überwachen, diese putzigen Wesen jedoch nicht direkt steuern. Sie bevölkerten eine eigene Welt, und eine erfolgreiche Zucht war im ersten Teil noch entscheidend, weil man nur eine begrenzte Anzahl Eier mitgeliefert bekam. Erschaffen wurde Creatures von Steve Grand, der sich mit seiner Forschung im Bereich künstlichen Lebens einen Namen gemacht hat.

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