Wie ich Karaoke einst nach Deutschland brachte

Ein Trendsetter ist jemand, der (weil man ihn als maßgebend und stilprägend ansieht) eine bestimmte Sache in Mode bringt. Und auch wenn ich mich selbst lieber als Avantgardist oder Pionier beschrieben sehe, wehre ich mich natürlich nicht gegen die Bezeichnung Trendsetter – immerhin habe ich in meinem bisherigen Leben / Wirken schon so einige Trends losgetreten. Unvergessen beispielsweise, wie ich Huawei quasi im Alleingang in Deutschland bekannt und insgesamt zu einem der größten Smartphone-Hersteller der Welt gemacht habe. Was wurde ich 2012 noch belächelt, wenn ich mein Huawei Ascend Y200 aus der Hosentasche zog. ZACK! Nur weniger später begann der kometenhafte Aufstieg von Huawei und ich konnte meiner stilprägenden Trendsetter-Rolle mal wieder gerecht werden.

„Ob es nicht anstrengend sei, dem Puls der Zeit immer einen Schlag voraus sein zu müssen?“, werde ich immer wieder gefragt. Doch diese Frage basiert auf der falschen Grundannahme, dass ich mir diese Rolle / diese Aufgabe bewusst ausgesucht hätte – aber eine solche Trendsetter-Rolle sucht man sich nicht bewusst aus. Auch Fußballfans (mit Ausnahme der FCB- / BVB-Erfolgsfans, wobei letztere den Begriff Erfolg grundsätzlich missverstanden haben müssen) suchen sich ihren Club nicht aus. Der Verein findet dich. Die Trendsetter-Rolle fand mich. Im Jahr 2003, also vor fast genau zwanzig Jahren. Dabei hatte ich doch mit Karaoke bislang so gar nichts am Hut! Aber während alle anderen schnellen Schrittes, mit gesenktem Blick und ohne ein Wort des Grußes, an der verirrten und verwirrten Fremden vorbeiliefen, nahm ich sie bei der Hand und gewährte ihr Einlass.

Weniger metaphorisch, aber deswegen nicht weniger schön: Auf irgendeiner englischsprachigen Internetseite war ich über eine Anzeige zu Karaoke Revolution für die PlayStation 2 gestolpert und ab diesem Moment felsenfest von dem dahinterliegenden Konzept überzeugt. Denn anstatt einfach nur „karaoke-typisch“ den eingeblendeten Text nachzusingen, sollte die „Gesangsleistung“ am Ende eines jeden Songs bewertet und die Anzahl der getroffenen Töne in Punkte umgerechnet werden. Bei Karaoke-Highscore-Jagden gegen Freunde antreten,… es war absolut klar, dass Karaoke Revolution einfach unheimlich viel Spaß machen würde. Nun lag es an mir, die breite Masse davon zu überzeugen. Ich musste den Trend lostreten.

Konami hatte Karaoke Revolution leider nicht in Europa, sondern nur in den USA und Japan veröffentlicht, wodurch sie mir meinen Trendsetter-Job nicht unbedingt leichter machten: Ohne teuren Modchip ließen sich die US-amerikanischen NTSC-Versionen nicht auf der in Europa beheimateten PAL-Variante der PlayStation 2 abspielen. Eigentlich. Denn parallel zur Import-Version von Karaoke Revolution, hatte ich mir das zauberhaft-magische SWAP MAGIC besorgt. Das SWAP MAGIC-Paket beinhaltete eine Boot-DVD und eine merkwürdig-löchrige Plastikarte mit allerlei Einkerbungen – mehr brauchte es nicht für ein bisschen Magie:

  • PlayStation 2 mit der Boot-DVD starten
  • Plastikkarte unter das DVD-Laufwerk fummeln und das Laufwerk während des laufenden Betriebs mit etwas Gewalt öffnen (dabei die ungesunden Geräusche des PlayStation 2-Laufwerks ignorieren)
  • Boot-DVD mit der NTSC-Version von Karaoke Revolution austauschen
  • Laufwerk wieder hineinschieben und auf Boot drücken

Zugegebenermaßen war auch diese Methode nicht sonderlich massentauglich, zumal sie bei jedem neuen Start wiederholt werden musste. Und so setzte sich der Videospiel-Karaoke-Trend zunächst nur im unmittelbaren Freundeskreis durch. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern und der Nachbarn. Es gibt ganz sicher angenehmere Klänge, als einen Haufen lautstark (aber natürlich trotzdem mit Kopfstimme) singender Teenager, die ihre eigenen Interpretationen von Like a Virgin, Kiss Me, Red Red Wine oder Girls Just Want to Have Fun zum Besten geben. Wir hatten trotzdem sehr viel Spaß mit Karaoke Revolution – auch wenn wir uns nach ein paar Monaten endgültig „leergesungen“ hatten. Und während ich mich wieder anderen Videospielen widmete, veröffentlichte Sony kurze Zeit später den ersten Ableger ihres Karaoke-Spiels SingStar für die PlayStation 2. Nicht nur in Japan und den USA, sondern auch in Europa. Die SingStar-Reihe, die das Konzept von Karaoke Revolution nahezu 1 zu 1 kopiert hatte, wurde zu einem riesigen Erfolg: Ob Kindergeburtstag, abendliches Ehe-Duett oder Vorglüh-Routine vor dem Aufbruch in den Club,… Karaoke lag in nahezu jedem deutschen Wohnzimmer über Jahre voll im Trend.

Ich bin kein Freund von unangebrachter Überheblichkeit, aber eben auch kein Freund von falscher Bescheidenheit. Und daher bin ich rückblickend durchaus ein bisschen stolz darauf, dass ich Karaoke einst nach Deutschland brachte. Gern geschehen!


Es gibt übrigens einen weiteren Autor bei WALL JUMP, der eine besondere Verbindung zu SingStar hat: Weil er damals sehr eng mit der SingStar-Produktmanagerin für den DACH-Raum befreundet war, konnte er tatsächlich Einfluss auf die Songauswahl einzelner Ableger nehmen. Es kostetet ihn viel, viel Überzeugungsarbeit, aber letztlich hat er dann irgendwie doch einen Song von Virginia Jetzt! unterbekommen.

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