Für meinen vierjährigen Sohn war schnell klar: Wenn es so ist, dann will er auch jeden Fall nichts davon mitbekommen. Er war sauer auf mich, dass ich meiner Fürsorgepflicht so schlecht nachkam und wollte nicht mehr Teil dieses Killerspiels sein. Es ist gar nicht so leicht, Videospiele zu finden, die meine Kinder zwar begeistern, aber ihre Gemüter nicht zu sehr herausfordern.
Meine bereits siebenjährige Tochter war auch nicht froh darüber, dass mir immer mal wieder ein paar gelbe und rote Pikmin elendig ertranken oder mit genüsslichen Bissen von der Fauna des Planeten, auf dem Captain Olimar gestrandet war, vertilgt wurden. Ich musste immer wieder versprechen, vorsichtig zu sein, doch Vorsicht reicht nicht bei Pikmin. Man muss auch geschickt sein und vielleicht einfach ertragen, dass es nicht immer möglich ist, 100 wuselige Figuren in einem 21 Jahre alten Spiel sicher über enge Brücken zu navigieren.
Sie akzeptierte all das, denn wann immer ein Pikmin tollpatschig hinfiel oder fröhlich winkte oder sonst einen Ausdruck der Niedlichkeit von sich gab, kompensierte das für die schmerzlichen Verluste. Das Aufspüren der Raumschiffteile, das Erforschen neuer Gebiete und der Triumph, ein besonders garstiges Tier übertrumpft zu haben, taten ihr Übriges. Gemeinsam fanden wir alle 30 Raumschiffteile und konnten Olimars Raumschiff flott machen.
Als wir dem Endboss, Emperor Bulblax, gegenüberstanden, der gleich haufenweise Pikmin zerquetschte oder wegschlabberte, brach eine brennende Frage aus ihr heraus: Warum begaben sich die Pikmin freiwillig in Gefahr? Sie legte die Verantwortung für den Tod so vieler Pikmin nicht auf mich oder Olimar, sondern auf die Pikmin selbst. Olimar hatte sie zu nichts gezwungen (auch wenn er faktisch totale Befehlsgewalt über sie hat, aber diesen Einwand hielt ich zurück). Ich konnte zusehen, wie sich ihre Gedanken beim Reden formten: Wenn die Pikmin akzeptieren, dass einige von ihnen sterben, dann müssten sie auch etwas davon haben, Olimar zu helfen. Vielleicht sahen sie eine Chance, ihr Zuhause mit Olimars Hilfe sicherer zu machen. Das Konzept von Kollektiv und Individuum erfasste sie. Ohne sich von dem traurigen Schicksal einzelner Pikmin lösen zu können, ereilte sie die Erkenntnis, dass diese ein solches gewaltiges Risiko zum Wohl der Gruppe eingingen. Könnte sie dasselbe tun? Wie könnte das irgenwer? Die Pikmin erschienen ihr mit einem Mal unbeschreiblich tapfer.
Dann sprach sie von den Bienendrohnen, die wir letztes Jahr von einem Bekannten geschenkt bekommen hatten, um sie an unsere Hühner zu verfüttern. Es waren Holzrahmen voller Waben, aus denen Drohnen schlüpften. Sie wurden vom Bienenvolk nicht benötigt und hatten von Anfang an keine Aufgabe und keine Zukunft. Das Individuum ist egal. Wenn echte Tiere für die Gemeinschaft sterben, dann ist es vielleicht OK, wenn auch Pikmin das tun!?
Nach einigen Versuchen war ich erfolgreich und der Imperator hinterließ das letzte Raumschiffteil. Wir sprachen noch ein wenig über Insektenstaaten und über das Abenteuer, das wir erlebt hatten, während die Pikmin das letzte Teil zum Landeplatz zurücktrugen. Dann war das Raumschiff komplett. Meine Tochter wurde merklich unruhig. Könnte Olimar nicht noch bleiben? Und den Frieden genießen, der endlich hergestellt war? Nein, seine Vorräte an Atemluft würden in wenigen Tagen ausgehen. Könnten die Pikmin nicht mit Olimar mitkommen? Nein, sie würden ihr Zuhause nicht verlassen. Trotz der gefährlichen Punktekäfer. Außerdem vermutete ich, dass ihre Zwiebeln nicht für den interstellaren Transit geschaffen waren.
Die Pikmin stellten sich in einer Reihe auf und führten einen Abschiedtanz auf. Olimars Rakete hebte ab. Ich legte den Controller beiseite und nahm meine bitterlich weinende Tochter in den Arm. Abschied ist härter als der Tod.
Pikmin, das 2001 für den GameCube erschienen war, bekam einen Nachfolger, den wir auch im Regal stehen haben. Darin kehrt Olimar zurück zu den Pikmin, um wertvolle Dinge für seinen Arbeitgeber aufzuspüren. Ein Trost war das nicht – wenn Olimar am Ende des Spiels wieder ohne die Pikmin nach Hause fliegen würde, würde sich meine Tochter dem Boykott meines Sohnes anschließen.
This post is also available in: Englisch