Wellington. Ort der Verheißung und der Erlösung. Des Friedens und des Abschlusses. Zumindest für Kenny.
Kenny ist eine der wichtigsten Figuren in Telltales narrativer Point&Click-Adaption der beliebten Familienserie The Walking Dead. Von der ersten Episode der ersten Staffel an ist das Leben nicht gut zu Kenny. Der Tod seines Sohnes und der daraufhin folgende Selbstmord seiner Frau zeichnet ihn erwartungsgemäß und wer das Spiel spielt, fühlt sich fortan verantwortlich für den bärigen gepeinigten Mann, wird aber permanent von dessen irrationalen Vorschlägen herausgefordert. Ich habe immer versucht, eine gute Balance zwischen sinnvollem Vorgehen und Vertrauensverhältnis zu Kenny zu wahren und er hat es mir wahrlich nicht leicht gemacht.
Nach einer aufregenden ersten Staffel mit einem hochdramatischen Finale trifft man in Staffel 2 als die junge Clementine erneut auf Kenny. Die Freude ist groß, doch Kenny scheint weiter abgebaut zu haben und seine Vorschläge wirken zunehmend unbrauchbar. Das macht das Verhältnis zu ihm noch wesentlich schwieriger als im ersten Teil. Wie besessen redet er das ganze Spiel lang von Wellington. Wellington, so habe er gehört, sei ein sicherer Ort der Zuflucht. Keine Zombies, keine Banditen. Und er, Kenny, werde dafür sorgen, dass die Gruppe und vor allem die nicht mehr ganz so kleine Clementine dort hingebracht würden. Es ist seine Mission und alles, was ihm noch im Leben bleibt.
Es bleibt unklar, ob es Wellington wirklich gibt und ob es dort sicher ist. Kenny läuft der vagen Idee einer möglichen Hoffnung hinterher und muss sich von anderen Personen ständig fragen lassen, ob dieses unbestätigte Gerücht die lange und gefährliche Fahrt dorthin wert ist. Und auch ich als Spieler hatte nach der kurzen Freude, eine Figur aus der alten Bande wiederzusehen, hauptsächlich Skepsis für Kenny über. Doch so, wie er sich für meine Clementine verantwortlich fühlte, fühlte ich mich für sein Seelenheil verantwortlich. Ich wollte ihm helfen, mir zu helfen. Und Clementine wollte das auch, da bin ich mir sicher.
Nach vielen weiteren, blutigen und schrecklichen Ereignissen schaffen die beiden es tatsächlich. All ihre Weggefährten sind tot, doch Kenny, Clementine und ein kleines Waisenbaby erreichen einen Ort, der „Wellington“ zu sein scheint. Nachdem er monatelang für seine Fata Morgana belächelt und für seine Obsession gefürchtet wurde, steht er am Ziel.
Doch das Spiel lässt offen, was Wellington ist. Das Wort steht auf einer der Containerwände, die den Blick auf das versperrt, was dahinter liegt. Wellington ist eine Mauer. Eine Barrikade. Heruntergerockt. Hässlich. Doch Kennys Augen weiten sich: „Holy shit. We did it, Clem!“ Und dann: „That’s gotta be it.“ Als müsste er sich ein letztes Mal selbst überzeugen, dass sein Traum Wirklichkeit ist. Eine Frau erscheint in einer Öffnung und Kenny fleht sie an, sie hineinzulassen. Doch natürlich ist es nicht so leicht. Es befinden sich bereits zu viele Menschen dort und die beiden werden abgewiesen. Kenny gibt nicht auf. Er verzichtet auf seinen Platz. Nur die Kinder sollen aufgenommen werden. „Please. I need them to be safe.“ Es geht um ihn. Nach einer Weile des Wartens kommt die gute Nachricht: Die Kinder dürfen bleiben. Kenny nicht. Kenny zeigt keinen Anflug von Bedauern. Es ist alles, was er wollte.
Das besondere an diesem Moment für mich ist, dass zu keiner Sekunde gezeigt wird, was sich hinter der Mauer befindet. Zuvor im Spiel war man schon einmal in einem scheinbar sicheren Camp, das von einem tyrannischen Wahnsinnigen geleitet wurde. Ob Clementine und das Baby sicher sind, weiß man nicht. Kenny bittet die Fremde, auf sie aufzupassen, doch sie zeigt keine Gesichtsregung, die ihm und der Spielerin bzw. dem Spieler das Gefühl geben, dass wirklich alles gut wird. Und es spielt auch keine Rolle. Clementine braucht Kenny nicht. Aber Kenny braucht Clementine. Es reicht ihm, zu glauben, dass er sie gerettet hat. In der Welt von The Walking Dead gibt es keine sicheren Orte, doch für Kenny gibt es ihn. Es ist Wellington. Kenny verlässt den Ort wie ein Held. All seine Entbehrungen waren nicht umsonst. Er kann sich auf die Schulter klopfen, denn Clementine lebt nun ein wunderschönes Leben. Ganz bestimmt.
Ich habe die beiden ersten Staffeln von The Walking Dead (2012, 2013) kurz hintereinander verschlungen. Es gibt noch zwei weitere, doch das Ende der zweiten Staffel war in seinem offenen Abschluss so beeindruckend, dass ich die Folgetitel der Reihe nie angefasst habe. Genau wie Kenny möchte ich nicht wissen, was wirklich in Wellington ist. Es kann mich nur enttäuschen. Wer es doch wagen möchte, kann dies seit September 2019 auf PC, PS4 und Xbox ONE die „Definitive Version“ mit allen vier Staffeln und zwei Bonusspielen tun.
This post is also available in: Englisch