Schneller als Ein Gorilla

Limitierungen können unterschiedlich wirken. Der Lieferdienst Gorillas und das Videospiel Minit haben sich für dasselbe Kernkonzept entschieden: Sie begrenzen die Zeit, die für eine Aufgabe zur Verfügung steht. Die „Gorillas“ haben zehn Minuten Zeit, um dem Kunden Lebensmittel zu bringen. Wer Minit spielt, hat eine Minute Zeit, Dinge zu tun, bevor die Figur stirbt und man am Ausgangspunkt startet. Ein Zeitlimit. Eine Herausforderung. Oder ein ziemlich übles Geschäftsmodell. Die Gorillas, das sind die Kuriere, die wie die Affen durch den Wald rasen. Dynamisch, jung. Nicht, um alten Menschen zu helfen, die das Haus kaum noch verlassen können. Die Zielgruppe sind andere, junge Großstädter, die ihren Alltag noch immer nicht genug optimiert haben. Mitarbeiter als Nutztiere. Gorillas. Ausgerechnet die dem Menschen so nahen Tiere. Es geht kaum sinnbildlicher.

Das Zeitlimit von Minit und den Gorillas unterscheidet sich scheinbar nur im Faktor: Die Gorillas haben zehnmal so viel Zeit. Und doch wirkt das Zeitlimit so unterschiedlich. Denn während Minit aus der Limitierung Kreativität erwachsen lässt und die ausgetretenen Genrepfade damit neu begrünt , betreibt die Gorilla-Limitierung das Gegenteil: Raubbau. Und während ich kein schlechtes Gewissen dabei habe, ein ambitioniertes Indie-Spiel zu spielen, sollte man sich doch fragen, ob man jeden Scheiß in Anspruch nehmen muss, nur weil es geht? Gibt es wirklich einen Bedarf, den die Gorillas decken, oder wird der Bedarf durch das Angebot erzeugt? Viele Menschen sind auf Lieferdienste angewiesen. Aber warum muss es so schnell gehen? Geht so vielen Leuten der Hefeteig ein, wenn sie nicht sofort die fehlende Zutat erhalten? Sind sie dermaßen eng getaktet und kurzentschlossen? Und weshalb unterstützen Kund:innen ein Geschäftsmodell, bei dem sich niemand wundern kann, wenn nach kurzer Zeit die ersten Meldungen über schlechte Arbeitsbedingungen eintrudeln?

Ich denke an einen Song der US-Band Nada Surf, in dem immer wieder die Zeile wiederholt wird: „Always rushing, always late„. Oder auch Element of Crime: „Immer unter Strom. Immer unterwegs und überall zu spät.“ Wendet man ihn auf die Gorillas an, klingt das dystopisch. Doch für mich waren diese Songs immer positiv. Elektrisierend. Ich finde mich darin wieder. Ich lebe es. Es ist das, womit Gorillas wirbt: Jugendlichkeit. Dynamik. Und es ist das, was Minit versteht und vermittelt.

Denn wenn ich mit dem Zeitlimit im Nacken durch die Welt von Minit streife, fühle ich mich leichtfüßig, ich probiere aus und bin ganz aufgeregt, wenn ich etwas neues entdecke, was ich im nächsten Run eingehender erforsche. So eingehend, wie eine Minute es zulässt. Aus der Frage, wie viel Spielspaß und Vielfalt man in einmütigen Happen von ein und demselben Startpunkt aus erzeugen kann, ist Minit eine beeindruckende Antwort. Eine einzigartige Videospielwelt, die mit Zelda eine dankbare Vorlage gewählt hat. Items, die blockierte Wege zugänglich machen oder andere Wege der Fortbewegung ermöglichen sowie eine gitterförmig vernetzte Welt sind der ideale Nährboden für diesen kreativen Prozess. Die Grenzen der Welt ausloten, neue Orte entdecken und bekannte Orte, an denen ich schon zehnmal vorbeigehetzt war, in neuem Licht sehen: Das Spiel ist witzig, überraschend, genial verschachtelt und umarmt die Idee der eigenen Limitierung mit einer Lockerheit, die sich die Gorillas von teuren Agenturen plakatieren lassen.

Am Ende hatte ich mir eine Welt erschlossen. Durch viele, kurze Handlungen, die zusammen zu etwas Großem geworden sind. Die Gorillas haben in der Zeit nichts aufgebaut. Keine Verbesserungen, keine überraschenden Momente erlebt. Sie sind nicht als Mensch gewachsen, haben keine dauerhaften Abkürzungen freigeschaltet und sich nicht einmal Jetpacks anmontiert. Sie haben, während ich das Spiel gespielt habe, jeweils 9 Haushalte mit Lebensmitteln versorgt. Weil diese Haushalte dringend ein paar Dosen Red Bull brauchten.


Minit ist einer von vielen ambitionierten Indie-Titeln, die von Devolver Digital vertrieben werden und erschien 2018 für alle gängigen Plattformen. Mit seiner kurzen Spieldauer von 1-2 Stunden ist die Hürde niedrig, sich auf diese besondere Spielerfahrung einzulassen. Ich habe noch nie bei Gorillas bestellt und werde es auch niemals tun.

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