Mut zur Verspielung

Altersbedingt fand meine Gaming-Sozialisierung in den 90ern statt – einem Jahrzehnt, dass ich alleine schon deswegen nun für das popkulturell relevanteste der Menschheitsgeschichte halte. Doch nicht nur die ersten Gehversuche der 3D-Spiele prägten mich, auch die Filme der damaligen Zeit nehmen bis heute eine besondere Rolle in meinem Leben ein. Ein Film, der die 90er vielleicht am besten beschreibt, kam kurz vor ihrem Ende in die Kinos: The Matrix. So konnte ich, als vor einigen Wochen die zigtausenste Wiederholung im Spartenfernsehen lief, nicht wegsehen – und war nicht nur von der heute fast schon niedlichen Kombination aus Action, Teenage Angst und Mythos Internet fasziniert. Denn mir wurde wieder bewusst, wie sehr sich Film und Games damals gegenseitig inspirierten. Am aufälligsten wird das natürlich bei den Slow-Motion-Schusswechseln aus The Matrix, die sich keine zwei Jahre später im Spieldesign von Max Payne wiederfanden – dessen Entwickler Remedy Design dieser Ästhetik bis zu seinem jüngsten Spiel Control treu blieb.

Doch die offensichtliche Wechselwirkung zwischen Film und Games war nur eine Facette, denn die Wachowski-Schwestern waren sich der popkulturellen Verortung ihres Werkes offenkundig bewusst. So suchten sie mit der Kurzfilm-Anthologie Animatrix den frühen Schulterschluss zu Anime, mit dem Videospiel Enter the Matrix sollte das Universum gar gleichberechtigt zum Film interaktiv weitererzählt werden. Entsprechend gehyped war Enter the Matrix im Vorfeld seiner Veröffentlichung 2003, entsprechend groß der Produktionsaufwand. Denn niemand geringeres als David Perry, zu diesem Zeitpunkt mit ambitionierten Spielen wie MDK oder Messiah und feschen Lederjacken einer der schillernsten und aufstrebensten Game Designer, sollte für die Spielqualität sorgen. Das Drehbuch wurde analog zu den Filmen von den Wachowski-Schwestern verfasst; dazu drehten sie eine weitere Stunde Filmmaterial, das in Kinoqualität und mit Schauspielern der Filmtrilogie das interaktive Spielerlebnis ergänzte und zum gleichberechtigen Medium machen sollte.

Nun wissen wir: Enter the Matrix war leider kein besonders gutes Spiel, David Perry beendete nach einem weiteren, deutlich unambitionierteren und ebenfalls sehr schwachen Matrix-Spiel seine Karriere als Designer und schuf mit Gakai die Basis des heutigen Streaming-Dienstes PlayStation Now, und das nächste Kapitel im Matrix-Universum wird nach all den Jahren in wenigen Monaten nur auf der Kinoleinwand fortgeschrieben. Und was wurde aus der Verbindung von Film und Spiel?

Die Ambition, den Medienbruch zwischen Film und Games konsequent zu Ende zu denken, war eigentlich verheißungsvoll. Die Nähe beider Medien wird schließlich auch heute noch unentwegt gesucht. So lässt Ubisoft angesagte Schauspieler wie Giancarlo Esposito oder Jon Bernthal per Motion Capturing authentisch in seinen Spielen auftreten. Gleichzeitig kündigt Netflix beinahe im Wochentakt Verfilmungen bekannter Gaming-Reihen an, um die junge Zielgruppe für das Streamingangebot zu begeistern: Nicht nur erfolgreiche Marken wie The Witcher und Resident Evil werden in Serienformate umgesetzt, mit Castlevania finden sich auch mehrere Staffeln zu einer Gamingreihe, deren letzter Ableger doch einige Jahre her ist. Und nach Lara Croft und Sonic darf nun sogar Super Mario darf schon bald passive Leinwandabenteuer erleben. Andersrum gibt es immer noch Spiele zum Marvel-Universum, Herr der Ringe oder Harry Potter. Die tiefe Verzahnung mit den Filmen, die Enter the Matrix vorleben wollte, fehlt aber völlig.

Daher fordere ich bei all dem fröhlichen Handeschütteln zwischen Games- und Film-Exekutiven ein stetiges, hochwertiges Gaming-Pendant zu Verfilmungen: Gebt mir endlich richtige Verspielungen! Nicht einfach nur Spiele, die zwar auf der gleichen Marke basieren, in denen die Protagonisten dann aber doch anders aussehen und deren Geschichten nicht direkt mit den Filmen und Serien verbunden sind. Und tatsächlich sind Spiele zu großen Entertainment-Marken mittlerweile eher die Ausnahme. Dabei wurde gerade in der letzten Konsolengeneration deutlich, wie sehr die großen AAA-Produktionen auf bewährte Marken setzen müssen. Konsequenz sind immer und immer wiederkehrende Forsetzungen bekannter Spieleserien wie Assassin’s Creed oder Call of Duty und, wenn man Glück hat, Reboots und Remakes alter Klassiker wie jetzt Dead Space. Das Risiko, ganz neue Marken zu etablieren, ist wirtschaftlich eigentlich nur für kleine Produktionen und Independent-Games abbildbar. Konsequent gedachte Verspielungen könnten hier eine Lücke schließen: Die Marken müssten nicht erst etabliert werden, die Idenfitikation mit Handlung und Protagonisten wäre von Tag 1 gegeben. Und die Fülle aufwändig produzierter Serien, die sich explizit an eine junge Zuschauerschaft richten sollen, war wohl nie so groß. Wieso gibt es keine Entsprechung von Serien-Spinoffs wie Better Call Saul, wieso kein opulentes Fantasy-Rollenspiel mit packenden Game of Thrones-Kurzgeschichten aus der Feder der Serienmacher, wieso kein humorvolles Adventure zur neuen Fußballsaison von Trainer Ted Lasso? Während es früher Direct-to-DVD-Sequels gab, könnte man heute doch einfach Direct-to-Game-Fortsetzungen entwickeln. Mich und viele andere würde es mindestens genauso begeistern, ihren Lieblings-Geschichten und -Helden auch interaktiv zu folgen, als nur die nächste, von Filmvorlagen los gelöste Interpretation einer bekannten Marke wie den Avengers oder weitere Sequels existierender AAA-Gaming-IP präsentiert zu bekommen. Stattdessen werden Filme und Serien, wenn überhaupt, momentan nur in Form schnell produzierter Mobile-Games als vermeintlich cleveres Marketingtool missbraucht. Das wirkt dann nichtmal nicht gekonnt, sondern vor allem nicht gewollt – und kann so dem Premium-Anspruch der Leinwand-Vorbilder nicht genügen.

Mein Appell, den Mut zur Verspielung wieder zu wagen, bringt mich zurück ins Jahr 2003. Denn eigentlich geht es in dieser Rubrik ja um die besonderen Momente, die wir mit Videospielen erlebt haben. Enter the Matrix ist für mich ein ganz besonderer Fall, denn ich war tief von dem Spiel enttäuscht. So enttäuscht, das sich es nach einer Spielstunde nicht mehr anfassen wollte. Und doch, im Unterschied zu vielen Spielen, die ich viel mehr mochte, ist es mir bis heute in Erinnerung geblieben. Für den Moment, an dem ich es mit nach Hause genommen habe, die großen Erwartungen, die ich an eine zu den Filmen gleichwertige Erzählung, eine Erweiterung des Matrix-Universums hatte. Und das als interaktives Videospiel. Ein Moment, der eigentlich mehr ein Versprechen war, das bis heute nicht erfüllt wurde. Es ist an der Zeit!


Enter the Matrix ist eines der enttäuschensten Spielerlebnisse im Leben des Autoren. Und doch blieb es auch positiv im Gedächtnis – als der bis heute vielleicht ambitionierteste Versuch, die Grenze zwischen Spiel und Film zu verwischen.

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