Kinnlade am Boden

Genau so. Ganz genau so wie Diddy und Dixie Kong im obigen Bild aussehen muss ich ausgesehen haben, als ich Diddy Kong und Dixie Kong das erste Mal ganz genau so aussehen sah.

Kanada, New Brunswick, Fredericton, 1996. Ich betrete das Wohnzimmer der Familie MacDonald. Es sieht aus wie bei den Eltern mancher meiner Freunde. Eher wie bei deren Großeltern. Dunkel vertäfelte Wände, mächtige, dicke Sofas mit zu großen, unknuffbaren Kissen und einem unpraktischen, großen Couchtisch, um den man sich so unbequem herumwursten muss, um aufzurücken. Tand im Regal. Fotos, kleine Statuen, ein paar Bücher und vermutlich Schalen mit getrockneten Blütenblättern.

Inmitten dieser omahaftigen Hässlichkeit: Ein riesengroßer Fernseher. Eine Oase der Farbenpracht in einem spießíg-trostlos-muffig-dunklen Wohnzimmer. Vor dem TV auf dem Boden: Eine fremdartige, klobige Konsole mit pastellig-lilanen Knöpfen. Vor der Konsole, ebenfalls auf dem Boden: Der Sohn unserer Gastfamilie. Nennen wir ihn Eddie. Eddie MacDonald. In seinen Händen ein… SNES Controller? Und auf dem Screen: Donkey Kong County. Eines meiner Lieblingsspiele für mein kürzlich erstandenes SNES. Aber es ist nicht Donkey Kong Country. Es ist anders. Bunter. Donkey Kong fehlt. Stattdessen läuft da ein blondes Affenmädchen. Und dann entschwebt ein Schwert der blubbernden Lava und den beiden klappt die Kinnlade runter. Meine auch. Was für eine ausdrucksstarke Animation und überhaupt: Es gibt noch ein Donkey Kong Country? Es gibt mehr von diesem zauberhaften Wunder eines Videospiels??

Es gab eine Zeit, in der ich durch zufälliges Gestöbere im Plattenladen oder später bei Napster Alben von geliebten Bands entdeckt habe, von deren Existenz ich nicht wusste. Stolpern über Schatzkisten. Und genau so fühlte ich mich im Wohnzimmer der MacDonalds. Adrenalin, Begeisterung. Da spielte jemand ein Spiel, auf das ich mich monatelang gefreut hätte, wenn ich gewusst hätte, dass es überhaupt existiert. Es ist meine persönliche Benchmark für positive Fassungslosigkeit.

Im Sommer 1996 verbrachte ich vier Wochen in einem Sommercamp mit Kindern aus elf anderen Ländern. Ich habe Freundschaften mit Menschen ohne die Basis einer gemeinsamen Sprache geschlossen. Es war eine prägende Erfahrung in meinem Leben, die mich mit Sicherheit zu einem besseren Menschen gemacht hat. Und genau nach der Hälfte der vier Wochen stand das sogenannte „Family Weekend“ an. Jeweils zwei von uns besuchten eine ortsansässige Familie, um das echte Leben außerhalb der Campgrenzen zu erleben. Ich war nicht auf eine solch wundersam-verfremdete Anknüpfung an mein Kinderzimmer vorbereitet, das auf der anderen Seite des Atlantiks geduldig auf meine Rückkehr wartete. Die Exotik des US-SNES! Die selbstverständliche Lässigkeit, mit der ein kleiner Junge etwas spielte, was ich nicht begreifen konnte. Freaking Dixie Kong!!

Ich war nicht lange zu Gast bei den MacDonalds. Wir unternahmen Ausflüge, gingen Basketball spielen, kochten gemeinsam… aber für einige Minuten spiele ich Donkey Kong Country 2: Diddy’s Kong Quest. Es erschien mir wie ein technischer und spielerischer Quantensprung. Ich wusste nicht, ob es jemals in Deutschland erscheinen würde. Es schien mir eine dieser Sachen zu sein, die Freunde erzählen, wenn sie aus dem Urlaub kommen und von denen man nie wissen konnte, ob sie frei erfunden waren oder nicht:

„Ich war in Kanada. Da gibt es ein zweites DKC-Spiel. Mit Dixie Kong. Die kann man auf die Schulter nehmen und werfen. Und wenn sie einen Boss treffen, klappt ihnen die Kinnlade runter. Am Ende eines Levels spielt sie E-Gitarre. Und Diddy rappt. Und es gibt Schwerter, die aus der Lava kommen und ein riesiges Piratenschiff und einen Jahrmarkt und man ist in einem Wespennest, in dem alles aus Honig ist und klebt. Als Spinne!“

„OK.“

Aber fucking hell – es war alles echt! Die spielgewordene übertriebene Fantasie eines Fünftklässlers. Nicht die USA – Kanada war mein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Als ich nach Deutschland zurück kam, wollte ich unbedingt wissen, ob es das Spiel auch bei uns geben würde. Das Ergebnis war gleichermaßen ernüchternd wie begeisternd: Es war bereits im Dezember des Vorjahres erschienen. Ich hätte es mir zum vorigen Weihnachtsfest wünschen können, aber ich musste aber erst um die halbe Welt fliegen, um überhaupt davon zu erfahren. Ich wünschte es mir zum anstehenden Geburtstag. Doch wenige Tage nach meiner Rückkehr und noch vor meinem Geburtstag, schlug ich arglos eine Seite in einem Videospielmagazin um, als mich der Schlag traf: Dort war ganzseitig eine Werbung abgedruckt für ein Spiel, das in nur vier Monaten und pünktlich zu Weihnachten erscheinen würde: Donkey Kong Country 3: Dixie Kong’s Double Trouble.

Wie schön es war, ein Kind zu sein.


Nicht nur mein kanadisches Erlebnis, auch die Mehrheitsmeinung sagt, dass Donkey Kong Country 2: Diddy’s Kong Quest (1995) das beste Spiel der SNES-Trilogie ist und einer der besten Plattformer aller Zeiten. Daran konnte auch Weihnachten 1996 nichts ändern, als tatsächlich Teil 3 unter dem Tannenbaum lag.

Dieser Artikel ist Teil einer Reihe von Texten zu 30 Spielen aus 30 Jahren.

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