Hoffentlich nicht scheiße

Wenn man nicht gerade ein argloser Videospieler ist, der sich zum Zeitvertreib, zur Zerstreuung oder sogar zur Horizonterweiterung vor die Konsole oder den PC setzt, könnte es sein, dass der soziale Status daran hängt, was man spielt, warum man es spielt und am wichtigsten – wie man das findet, was man spielt. So wie man sich in manchen Kreisen dazu positionieren muss, welche Filme aus dem MCU den Comics gerecht werden, welche Rebsorte im vorvergangenen Jahr die beste Traubenernte eingefahren hat, oder welche Band aus den 90er Jahren die größte Relevanz hat, so ist es auch bei Videospielen: Wer einen guten Geschmack hat, wird von seinen Peers geadelt.

Einen eigenen Geschmack zu haben, ist nicht leicht. Er muss fundiert sein, man braucht eine breite Kenntnis der Materie, er darf nicht zu sehr auf dem Mainstream liegen, aber weicht man davon ab, muss dies anerkennendes Nicken hervorrufen. Bestätigung ist die Währung dieser beinharten Auslese und manchmal stößt man auf Gold. Man findet ein Spiel, das alle gespielt haben sollten, es aber nicht getan haben.

Eine probate Strategie ist, sich in Nischen zu flüchten. Wo sonst niemand ist, kann man leicht die Deutungshoheit erlangen. Manche spielen Early-Access-Titel, um beim nächsten großen Ding ganz vorne dabei zu sein. Auch mit kleinen Indietiteln kann man leicht den Anschein eines Connoisseurs erwecken. Doch die Kür ist es, eine abweichende Meinung bei einem großen Titel zu haben und damit dennoch Anerkennung zu finden.

Ich habe mich manchmal gefragt, ob ich mich ein bisschen ins Aus manövriert habe, indem ich Jet Force Gemini in die Riege der Meisterwerke seiner Ära erhoben habe. Es ist ein recht spät im Lebenszyklus des N64 veröffentlichtes Spiel von Rareware, die seinerzeit als Garant für gute Spiele galten. JFG wurde jedoch durchwachsen aufgenommen. Trotzdem kaufte ich es und es machte mich glücklich. Damals noch ganz ohne Metadiskurs und Peers, die ich mit meinem Geschmack beeindrucken wollte oder konnte.

Mit den Jahren verblasste die Erinnerung, wie ich an Bord der SS Anubis oder auf dem Feuerplaneten Eschebone kleine niedliche Aliens rettete und große eklige Aliens mit meinem Waffenarsenal zu Matsch schoss, aber zurück blieb das Gefühl, ein ganz besonderes Spiel gespielt zu haben. Während ich ein solches Gefühl bei anderen Spielen oft zwangsläufig auffrische, weil sie omnipräsent in Diskussionen, Artikeln oder Videoessays sind, verschwand JFG mit jedem Jahr etwas mehr aus meinem Bewusstsein. Gleichzeitig wurde ich zunehmend neugierig, ob ich überhaupt noch mögen würde. JFG war inzwischen mögliches Zeugnis meines exquisiten Geschmacks, doch es mehrten sich die Zweifel, ob es vielleicht eher das Gegenteil war. Vielleicht aus dieser Sorge fasste ich es nie wieder an.

Als mein Sohn mich neulich bat, ihm das zweite Mario Kart zu zeigen, das es jemals gab, kramte ich mein N64 hervor. Im Modulschacht steckte Jet Force Gemini. Und am selben Abend probierte ich es endlich aus und erlebte eine der schönsten Videospielerfahrungen seit langem. Nie zuvor hatte ich die Möglichkeit, ein Lieblingsspiel so zu spielen, als hätte ich es nie erlebt. Und nie hätte ich damit gerechnet, dass es der Hypothek aus nostalgischer Verklärung mit Bravour Stand hielt. Und nicht nur das. Mit geschärftem Blick kann ich viel mehr anerkennen und wertschätzen, was dieses Spiel im Jahr 1999 geleistet hat.

Aber das Schönste ist, dass mir all das egal ist. Ich muss das Leveldesign nicht analysieren und ich brauche keine Trophäe, mit der ich mich gegenüber anderen beweisen kann. Es ist mir auch egal, wie gut es am Ende wirklich ist. Jet Force Gemini war mehr als zwei Jahrzehnte lang das Spiel, das ich mochte und alle anderen nicht. 2021 ist es das Spiel, das mir vergessene Erinnerungen bringt und mich damit überrascht, wie glücklich es mich macht. Es ist nicht, was ich befürchtet und so viel mehr als ich erhofft hatte.


Jet Force Gemini erschien am 29. Oktober 1999 für das Nintendo 64 und immer, wenn es Winter wird, denke ich das Spiel. Tatsächlich erhielt es ordentliche Kritiken und verkaufte sich immerhin mehr als eine Million mal, doch in mancher Hinsicht war es seiner Zeit wohl zu sehr voraus. Zwei Analogsticks und eine bessere Hardware hätten dem ambitionierten Titel sicher gut getan. Einen Eindruck davon kann man mit verbesserter Steuerung und Optik im Rahmen der Rare-Replay-Collection für Xbox One und als Teil des Game-Pass-Programms erhalten.

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