Everything In It’s Right Place

In den vergangenen Jahren gab es eine seltsame Diskussion: Sind Videospiele wie Firewatch, in denen man hauptsächlich durch eine Welt läuft und eine non-lineare, interaktive Handlung erlebt, eigentlich Spiele? Die leicht Testosteron-getränkte Debatte forderte ein, dass spielen auch Skill voraussetzen muss. Irgendwann etablierte sich dafür dann der eigentlich zynische Begriff “Walking Simulator”, als wäre die Art und Weise, wie man sich durch die Welt bewegt, der wahre Spielinhalt. Nunja.

Kulturwissenschaftler:innen berufen sich bei der Beantwortung der Frage, was eigentlich Spiel ist, regelmäßig auf den Kulturantrophologen Johan Huizinga und sein Hauptwerk “Homo Ludens”. Dort erklärt Huizinga das Spiel wie folgt:

„Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“

Als die nicht ganz unbekannte britische Band Radiohead im letzten Jahr ihre beiden Alben Kid A und Amnesiac unter dem praktischen Titel “Kid A Mnesia” neu auflegte, haben sich vermutlich wenige Gamer:innen gefragt, was das denn nun genau mit ihrem Hobby zu tun haben sollte. Doch statt neuer Musikvideos oder einer eigentlich geplanten Kunstperformance entschied sich die Band zusammen mit dem Illustrator Stanley Donwood, der sich für die Artworks und Clips zur Erstveröffentlichung der Alben um die Jahrtausendwende verantwortlich zeichnete, nun, eben eine Art Walking Simulator zu veröffentlichen. 

Gemeinsam mit Epic Games und den Entwicklern [namethemachine] und Arbitrarily Good Productions wurden vorhandene Grafiken, Symbole und Texte in eine surreale 3D-Welt für PlayStation 5, PC und Mac umgedacht, in der sich Tonspuren und Songs der beiden Alben wiederfinden. Als, nunja, Spieler:in läuft man durch die Korridore, schwebt durch Räume und erkundet versteckte Pfade – und entdeckt auf diese Art die vermeintlich bekannten Alben der Ausnahmemusiker neu. 

Dabei gibt es keine Achievements, keine Sieg und keine Niederlage – nur ein rauschhaftes, besonderes Erleben des künstlerischen Werks von Radiohead. Und auch wenn die Feuilletons von einer interaktiven Ausstellung sprachen – und die Gaming-Presse KID A MNESIA EXHIBITION gleich ganz totschwieg: Für mich bot sich eines der eindrucksvollsten Spieleerlebnisse des letzten Jahres.

Ich habe danach lange selbst mit mir gerungen, ob ich KID A MNESIA EXHIBITION als Spiel klassifizieren würde, ob ich darüber überhaupt auf Wall Jump schreiben möchte. Doch letztendlich saß ich vor meiner Konsole, mit dem Controller in der Hand. Und habe mit einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben etwas gespielt‘.

Mein innerer Kulturanthropologe sagt also: Ja, verdammt, das ist ein Spiel! Und ein richtig tolles noch dazu! Vielleicht ist es einfach an der Zeit, dass wir nicht immer nur fordern, dass Spiele als Kulturgut wahrgenommen werden sollen – sondern anerkennen, dass Kultur auch längst ein Spiel sein darf. Und eben kein Walking Simulator.


KID A MNESIA EXHIBITION ist für mich die vielleicht spannendste Verbindung vieler persönlicher Leidenschaften, für die ich zum Gamepad greifen durfte. Nicht nur Band-Fans dürfen daher einen Blick riskieren – denn hier ist wirklich alles an seinem richtigen Platz.

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