Eine Million Tricks

Wir haben seinerzeit Tricks von mehreren Millionen Punkten gelandet“ sagt der Tekken-Profi mit dem Dual Shock in der Hand, neben mir auf der Couch. Doch er meint nicht sein favorisiertes Fighting-Game, er meint Tony Hawk’s Pro Skater. Damals, 1999, verbrächte er an der ersten PlayStation Tage und Nächte damit, die längsten Grind-Routen, höchsten Airs und besten Gaps zu finden. Über zwanzig Jahre später reichen wir uns den Controller wieder hin und her, um zu zeigen, was wir noch drauf haben, im Remake des Skateboardsportspiels, das eigentlich gar kein Sportspiel ist.

Wer schon einmal auf einem Skateboard stand, sah sich mit der unerträglichen Komplexität der Eleganz konfrontiert. Balance, Geschwindigkeit, Kurven, gar ein Ollie? Es sieht so einfach aus, was die anderen Kids machen und ist doch so schwer zu meistern. Der Transfer in das Videospiel, das den Namen eines erfolgreichen Skateboarders trägt, ersetzt zumindest die Lernkurve der absoluten Basics durch Knopfdrücken. Obwohl das natürlich nicht mehr viel mit echtem Skateboarding zu tun hat: danke dafür. Wer will schon Stunden verbringen, nur um auch im Virtuellen auf dem Board die Balance halten zu können?

Dafür bäumen sich Tony Hawk’s Pro Skater und sein zweiter Teil in ganz anderen Bereichen auf. Musik, Charaktere, Setting, Farben, Marken und Attitüde versprühen das Freizeitgefühl eines abercoolen Skatermilieus, Halbgötter auf Rollen, die viel zu tough für die Schule oder das Unterlassen von Vandalismus sind. Naja, es soll ja auch Spaß machen, die Übertreibung ist Teil des Prinzips.

Ja, es waren sicherlich die radikale Portion Coolness und „Reife“, die dem Spiel seine Aufmerksamkeit und vielleicht auch Beliebtheit verdankt. Seinen messbaren Erfolg, seinen Status als Videospiel-Meilenstein und sein Neu-Erfolg durch das Remake beruht aber auf einem faszinierenden Mix von Genreideen, der so erst richtig nach Jahrzehnten sichtbar wird, in denen sich Gaming-Genres deutlich ausdifferenzieren konnten.

Zwei Minuten. Das ist das Interval, in dem der Controller zu meinem Skatepartner und wieder zurück wandert. Einhundertzwanzig Sekunden, um fünf Buchstaben zu sammeln, 100.000 Punkte zu landen, das geheime Tape zu finden – oder alles gleichzeitig zu erledigen. Wir rollen zwar von alleine fort, aber kommen auf keinen grünen Zweig ohne gut getimete Sprünge, präzise Richtungseingaben oder Levelkenntnis. Das macht Tony Hawk’s im Kern zu einem Plattformer, einem Collectathon, einer Mini-Open-World, einem Speedrun-Game und nicht zuletzt durch das Einprägen und Üben, Üben, Üben von Trick-Tastenkombinationen zu einem engen Verwandten von Fightinggames, die ja auch nur Highspeed-Schach sind.

Vor zwei Dekaden gab es weder diese Namen noch eine weit verbreitete Entsprechung. Natürlich gibt es nach wie vor Genre-Mixturen, doch jedes Teilgenre muss sich in der Regel den Vergleich mit seinem Archetypen gefallen lassen. Damals waren wir vielleicht unbedarft genug und konnten dieses bunte Angebot einfach annehmen und genießen. Damals war die Entwicklung vermutlich auch befreiter von durch-definierten Ideen und damit der Grund, warum das uralte Spiel im Remake heute ein herrlich erfrischendes Highlight zu vielen modernen Titeln darstellt.

Tony Hawk’s Pro Skaters Charme liegt in seiner wunderbaren Naivität, in der jedes Teilstück Spaß und Zufriedenheit verbreiten will. Wie Schneekönige freuen sich mein Couch-Coop-Partner und ich, als wir endlich wieder den elend großen Gap über die Dächer im Downtown-Level geschafft haben. Die Band Goldfinger liefert uns über den Soundtrack damals wie heute die Zeilen, die dieses Gefühl einfangen:

So here I am
Doing everything I can
Holding on to what I am
Pretending I’m a superman

Aus dem Song „Superman“ von Goldfinger

Übrigens: das Spiel hat seine ikonischen Skater-Charaktere auch digital altern lassen. Vermutlich weniger ein Anspruch an die Realitätstreue als eine anerkennende Demut vor dem Leben und seinen Veränderungen als solches. Und warum auch nicht, Ageism braucht schließlich kein Mensch. Das sehen auch alte Herren in Quarantäne so.


Die Tony Hawk’s-Reihe begann mit Tony Hawk’s Pro Skater in 1999, einem zweiten und dritten Teil in 2000 und 2001 auf Sonys PlayStation, alle entwickelt vom US-Studio Neversoft, die später von Publisher Activision aufgekauft wurden. Die Qualität zahlreicher weiterer Teile (darunter ein grandioser Port für den Game Boy Advance) war schwankend bis enttäuschend und erreichte mit dem offiziellen fünften Teil in 2015 einen schmerzhaften Tiefpunkt. Dieses Jahr nahm sich Vicarious Visions, die schon die Crash Bandicoot-Reihe erfolgreich aufpolierten, einem Sammel-Remake von Teil eins und zwei an, was sich als sehr erfolgreiches Unterfangen herausstellte.

This post is also available in: Englisch

Share: