Die Mutter aller Spiele

Es waren die frühen 90er und ich ging zur Grundschule. Ich hatte ich keine Konsole und keinen PC, weshalb ich meine frühen Spieleerfahrungen auf den DOS-Rechnern von Freunden sammelte. Dies tat ich insbesondere bei einem vier Jahre älteren Nachbarn, der einen 386er, später sogar einen 486er bei sich stehen hatte. Dort spielte ich Prince of Persia, Warlords, Dune II, Die Schicksalsklinge, Indiana Jones und der letzte Kreuzzug und viele weitere Großartigkeiten. Es waren lange, schlecht beleuchtete Abende mit fantastischen und teilweise abgründigen Welten auf einem riesengroßen Röhrenbildschirm. Es war aufregend.

Meist war ich jedoch nur staunender Zuschauer, doch wann immer wir Scorched Earth starteten, war ich voll mit dabei; Es war mein erstes Multiplayer-Spiel. Der Untertitel „The Mother of all Games“ war eigentlich nur eine Anspielung auf ein bekanntes Zitat von Saddam Hussein, aber für mich war es das tatsächlich. Es war mein Zugang zum Selberspielen, weil es in vertrauter Gesellschaft geschah, die mir eine Art sicherem Schutzraum bot, den kleine Kinder beim Umgang mit digitalen Medien durchaus gut gebrauchen können.

Scorched Earth sieht aus als hätte es ein Fünfjähriger unter Zeitdruck in MS Paint gemalt. Es ist im Grunde eine Frühform von Worms. Zehn verschiedenfarbige Panzer erscheinen auf komplett zerstörbarem Gelände und bekämpfen sich, bis nur noch einer steht. Es ist ein rundenbasiertes Spiel voller Strategie, Schadenfreude und Wahnsinn. Es erforderte Know-How. Alles war konfigurierbar, vom Wind und dem Explisionsradius über das Terrain bis hin zu den Texten, die die Panzer beim Ableben von sich gaben – es war ein großer Abenteuerspielplatz und wir probierten alles aus.

Das besondere war aber, dass wir es Runde um Runde zusammen spielten. So wie Monopoly oder Hotel, aber an dem Bildschirm, der uns schon so viele beeindruckende Erfahrungen bereitet hatte. Es war der Moment, in dem mir das Potenzial von Videospielen als soziales Medium dämmerte. Jede Runde musste vorbereitet werden, indem man sich sein Arsenal zusammenkaufte, währenddessen große Ankündigungen gemacht und Strategien besprochen wurden. Dann die Spannung, wo auf dem Schlachtfeld man landen würde und die Hoffnung, dass die anderen den Wind nicht richtig einpreisen. Es war sagenhaft. Es gab so viele Faktoren, dass jede Runde einzigartig und das Spiel niemals langweilig wurde. Je mehr Risiko man ging, desto größer der potenzielle Gewinn und wann immer etwas schiefging, kriegten wir uns vor Kichern nicht mehr ein.

Lange vor Mario Kart und International Superstar Soccer waren es die physikbasierten Panzerkämpfe und Atombombenexplosionen von Scorched Earth, die mir zeigten, welchen Spaß man beim gemeinsamen Videospielen haben kann. Wir waren kleine Kinder, die eine wundervolle Technik für sich entdeckten. Wir waren selbst die Experten darin, wann man am besten eine Funky Bomb einzusetzen hatte und welche Windeinstellung den meisten Spaß versprach. Es gab keine Erwachsenen, von denen wir lernen konnten. Es gab nur die Mutter aller Spiele.


Scorched Earth war – wie so vieles in dieser Zeit – Shareware und wurde 1991 von Wendell Hicken für MS-DOS programmiert. Wie Worms hat auch dieses Spiel das Genre nicht erfunden. Die wesentlichen Innovationen, die Scorched Earth nutzt, waren schon in Tank Wars von 1986 enthalten. Aber da war ich wirklich noch zu jung, um Panzer mit Funky Bombs zu zerstören.

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