Der Mondgott und der Dämon

Thoth ist der ägyptische Gott von allem Möglichen. Vermutlich beanspruchte jede Gruppe eine göttliche Repräsentanz für sich und damit es nicht zu viele Götter gab, war Thoth nicht nur für die Wissenschaft zuständig, sondern auch für den Westen, die Magie, die Schreiber und den Kalender. Er erfand die Hieroglyphen und war zwischendurch auch mal 3.000 Jahre lang ein friedlicher und gütiger Hauptgott. Er half seinem Vorgänger Horus, dessen linkes Auge wiederherzustellen, nachdem es im Kampf um den Thron herausgerissen wurde. Und womit wurde Thoths gutmütiges, langes Götterleben belohnt? Er wurde zum Mond. Nur hatte niemand mit dem Dämon gerechnet, der beständig vom Mond fraß. Ähnlich wie der griechische Prometheus ist er seitdem in immerwährender Vertilgungspein gefangen, denn der Mond wächst nur deshalb immer wieder nach, um den ewigen Hunger des Dämons zu stillen.

Und was wächst auch nach? Die leblosen, unnachgiebigen geometrischen Objekte, die im Videospiel Thoth die Todbringer für meinen kleinen, weißen Kreis sind. Schon die Tatsache, dass ein Indie-Spiel das scheinbar kein Narrativ und Einbettung in irgendetwas hat, den Namen einer ägyptischen Gottheit trägt, verstörte mich leicht. Und je tiefer ich ins Spiel eintauchte, desto mehr spürte ich einen wunderbaren Horror, den ich nun wirklich nicht erwartet hatte, als ich dieses unscheinbare Spiel im eShop-Sale erworben hatte. Thoth erzählt keine Geschichte, ist aber ein Thriller. Es nutzt Motive, Gameplay und audiovisuelle Effekte, um einen Psychotrip zu schaffen, der vielfältige, Gefühle in mir auslöst, die ich nicht gleich einordnen kann.

Als einfacher weißer Kreis schieße ich auf geometrische Figuren wie in hunderten anderer Shooter. Doch treffe ich sie, leert sich sukzessive deren Farbe, bis ich nachlasse und sie sich wieder auffüllt. Ich ballere deshalb weiter auf die seelenlosen Formen, bis sie von weltallfarbenem Nichts gefüllt sind. Eine so entleerte Form verschwindet nicht, sondern wird erst recht gefährlich, weil ich sie anziehe und damit beschleunige

Vom ersten Moment an spüre ich eine gewaltige Bedrohung, Wenn ich schieße, werde ich langsamer. Ich muss vier Level am Stück schaffen, um weiterzukommen. Es gibt keine Upgrades, keine Items, nichts, was es einfacher machen würde. Immer wieder bin ich alleine mit diesen ziellosen Objekten. Sie wollen nichts von mir, aber sie reagieren auf mich. Sie sind tödlich, weshalb ich auf sie schieße – ohne sie damit loszuwerden. Dabei füllen immer wieder ohne erkennbares Muster Klänge aus den tiefsten Kellern von Silent Hill den sterilen und aufgeräumten Screen. Alles läuft ohne Drama ab. Es gibt keine gruseligen Transformationen, knallende Soundeffekte oder Screenshakes. Die gleichgültige, todbringende Stille der Quadrate und Kreise ist viel schrecklicher als der wildeste Jäger. In ihnen und hinter ihnen ist nichts als Leere. Sie sind wie die Borg in Star Trek. Ihnen ist egal, was passiert. Sie sind einfach da und bringen das Ende.

So dachte ich mir das. Doch dann erinnerte ich mich an Thoth und den Dämon. Und bemerkte: Ich bin der Dämon. Nur bin ich noch viel gnadenloser als der Mondparasit, denn ich lasse nichts zurück wachsen. Ich bringe das endlose Nichts, durch das Klänge brechen, die nicht von dieser oder irgendeiner anderen Welt sind. Ich bringe das Ende von allem.


Erst nach dem Spielen habe ich erfahren, dass Thoth (2016, Switch/PC) von Jeppe Carlsen gemacht wurde, dem Lead Gameplay Designer von Playdead’s Limbo und INSIDE und seitdem wundert mich nicht mehr, wie viel theatrale Emotion in diesem unscheinbaren Spiel steckt und wie verstörend ein Shooter mit Kreisen und Quadraten sein kann.

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