Das rote Drehding

Falls ich jemals danach gefragt werde, welches meiner frühen Lieblingsspiele am besten gealtert ist, müsste ich nicht lange überlegen: Lemmings 2 natürlich! Es ist nicht nur um Längen besser als sämtliche seiner Fortsetzungen, sondern übertrifft meiner bescheidenen Meinung nach sogar das Original. Zwölf Lemming-Stämme mit individuell an ihre jeweilige Kultur angepasstem Design und ohrwurmeligem Hintergrundgedudel wollen in 120 Leveln gerettet werden. Nicht nur die putzige Pixelgrafik ist gut gealtert, auch der Schwierigkeitsgrad wirkt im angemessenen Maße fordernd und die Lemminge von Grund auf liebenswert. Zugegeben, aus heutiger Sicht sind die 51 Fähigkeiten, die man sich ohne Tooltips aus pixeligen Symbolen erschließen muss, für Neulinge eine nicht unerhebliche Einstiegshürde. Man sollte sich die Anleitung dazu besorgen, denn die lag dem Spiel anno 1993 noch in gedruckter Form bei. Mit einem Haken…  zwar wurden darin geduldig alle Fähigkeiten der suizidal veranlagten Protagonisten erklärt, nicht jedoch die Eigenarten ihrer Umgebung. In der wimmelte es vor tödlichen Fallen, Trampolinen, Teleportern, Katapulten und vielem mehr.   

Mein Glück war, dass ich Lemmings 2 als erstes Videospiel überhaupt von meinen Eltern geschenkt bekam, und deshalb sehr viel Zeit damit verbringen konnte. Ich biss mich Level für Level durch, lernte jede Ecke auswendig und hoffte immer, dass ich nicht wieder „save“ und „load“ verwechseln würde (was mangels Englischkenntnissen frustrierend häufig passierte). Aber abgesehen von der Sprachbarriere liebte ich alles an diesem Spiel und hatte das Gefühl, alle Mechaniken verinnerlicht zu haben. Auch später, als DOS längst der DOS Box gewichen war, kramte ich Lemmings 2 als einen von wenigen Titeln mit einer gewissen Regelmäßigkeit hervor. Nie büßte es dabei an Charme ein, und immer stellte sich direkt wieder das „ein Level noch…“ Gefühl ein, während ich die entzückend albernen Melodien vor mich hin summte. Und dann die Euphorie, wenn man nach zig Versuchen endlich doch ein Stückchen weiterkam! Natürlich war mein Ziel, so viele Lemminge wie möglich zu retten, und mir dadurch irgendwann in jedem Level die Goldmedaille zu sichern.

alte Lemmings 2 Notizen

Ein spezieller Level bereitete mir dabei all die Jahre besonders Kopfzerbrechen. Sports 6: „Blow Back…. „. Ich schaffte es zum Verrecken nicht, darin Gold zu holen, obwohl mir nicht in den Kopf wollte, wie ich anders vorgehen könnte. Immer und immer wieder ging ich meine Möglichkeiten durch… es gab 10 Springer, 10 Stampfer und eine Fähigkeit, die mich ein Loch im Boden mit Sand zuschütten ließ. Dazu eine Menge Dampffontänen, die die Lemminge in die Luft schleuderten. Ein Trampolin, ein paar Fallen, zwei mögliche Zielfahnen. Und egal wie sehr ich mich auch bemühte, immer gab es Todesopfer zu beklagen, die – so zeigte es mir die hämisch blinkende Silbermedaille deutlich – mit einer besseren Strategie zu vermeiden gewesen wären. Doch ich kam einfach nicht darauf. Ich analysierte den Level von vorne nach hinten und zurück, ohne dieses Rätsel zu knacken. Der Stamm der Sport-Lemminge entwickelte sich deswegen zu meinem Hass-Stamm, und ich möchte nicht ausschließen, dass er indirekt auch an meiner bis heute anhaltenden Sportmuffeligkeit Schuld ist.

2020 wurde die Welt von einer Pandemie erfasst. Vielleicht habt ihr davon gehört. Sie brachte uns dazu, guten Gewissens noch mehr Zeit daheim vor dem PC zu verbringen, ging aber auch mit einer gewissen Vereinsamung einher. Ich versuchte diese dadurch zu kompensieren, dass ich meine Lieblingsspiele für meinen Freundeskreis bei Twitch zu streamen begann. Mein erstes Projekt war direkt ein gewagtes: Endlich Lemmings 2 zu 100% durchspielen! Auch die Sport Level! Komm schon, das schaffst du!

Als ich zu meinem Hass-Level gelangte, verliefen die ersten Versuche wie erwartet. Lemminge starben, und eine Strategie, um dies zu vermeiden, wollte sich nicht zeigen. Dann plötzlich bemerkte ich etwas, was meine Welt auf den Kopf stellte… eine der Dampffontänen fontänte nicht mehr. Die Lemminge konnten einfach darüber laufen, was mir völlig neue Wege durch den Level eröffnete. HÖH?! Was war passiert? Mir war all die Jahre nicht einmal bewusst gewesen, dass man sie überhaupt deaktivieren konnte, und soweit ich mich erinnerte, war das auch für keinen anderen Level relevant gewesen. Es dauerte nicht lange, bis ich den Schuldigen gefunden hatte: Ein kleines rotes Objekt, acht mal fünf Pixel groß, das ich bislang immer für einen mittelmäßig einfallsreichen Teil der Hintergrundgestaltung gehalten hatte. Vielleicht so ein Teil, um Boote daran zu binden, was wusste ich schon. Es befand sich an einer abgelegenen Stelle des Levels, die einer meiner Lemminge nur deshalb erreicht hatte, weil ich ihn an einer anderen Stelle auf gut Glück hatte springen lassen. Nach einem Ausflug über ein Trampolin passierte er das rote Objekt, das sich als drehbar entpuppte und durch sein Vorbeilaufen die Dampffontäne deaktivierte. Ein Ventil sollte das also sein!

Und so habe ich nach über 25 Jahren endlich Lemmings 2 komplett mit Goldmedaillen durchgespielt, weil ich durch puren Zufall das rote Drehding verstanden habe.


Lemmings 2 wurde 1993 von Psygnosis veröffentlicht. Wie im legendären Vorgänger geht es darum, durch den Einsatz von Hirnschmalz und einem gewissen Maß an Geschicklichkeit eine größere Gruppe Pixelwesen durch gefährliche Level zu navigieren. Verleiht man ihnen keine besonderen Fähigkeiten, laufen sie einfach geradeaus, bis sie in eine Schlucht stürzen oder auf andere Weise das Zeitliche segnen.

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