Blätter‘ weiter auf Seite 604

Meine umfangreiche Sammlung Lustiger Taschenbücher hat mich als Kind immer wieder mit den Geschichten enttäuscht, deren Handlung man selbst bestimmen durfte. Sollen Micky und Goofy zuerst den gruseligen Keller erkunden oder doch lieber auf dem Speicher nachschauen? Natürlich den gruseligen Keller! Oh, der ist gar nicht gruselig. Die seltsamen Geräusche kommen von Prof. Zapteks Tomatentrocknungsmaschine. Haha, das „mysteriöse und schauderhafte“ Abenteuer ist schon nach fünf Seiten zu Ende. Dir gefällt das Ende nicht? Dann blätter‘ doch zurück und entscheide dich neu!

Am Ende hatte ich einen Flickenteppich zusammenhangloser Geschichtenfetzen gelesen. Mal spukt ein Geist, mal war es nur Klarabella Kuh, die beim Wäscheaufhängen Probleme hatte. Es gibt genau einen richtigen Weg durch die Geschichte – der Rest ist unausgegorene Füllmasse. Dabei war das Konzept so verlockend. Ich habe mir immer gewünscht, dass es das mal in gut gibt.

Am besten gleich zum Ende.

Und wer kommt zur Rettung, wenn Literatur es versemmelt? Videospiele! Zwar kann Max in Life is Strange genau wie Micky Maus jederzeit eine Entscheidung umkehren und sich anders entscheiden, aber genau das ist auch das Blöde an diesem Spiel. Zu viel von den Lustigen Taschenbüchern abgeguckt. Es geht aber auch anders.

Viele Videospiele haben verstanden, dass man eine bereits geschriebene Geschichte nicht selbst schreiben kann. Und sollte. Narrative Entscheidungen lassen sich dennoch sinnvoll in Spiele integrieren. Ich werde mit den Konsequenzen meines Handelns konfrontiert, bereue manche Entscheidungen und stürze mich in wilde Diskussionen mit meiner Sofanachbarin. Es passiert was in mir. Telltales Spiele kriegen das in der Regel gut hin. Zuletzt hat As Dusk Falls diverse Preise in diesem Genre gewonnen. The Stanley Parable kommentiert dieses ganze Spannungsfeld aus Kontrolle, Beschränkung und Entscheidungsfreiheit in einer lustigen Meta-Kunstinstallation, Videospiele erkunden diese Konzepte, probieren was aus, durchbrechen sie. Das hat Goofy nie getan. Er ist einfach die Treppe runtergepurzelt.

Und dann gibt es Twine. Twine ist das Gegenteil davon. Es ist eine Selbstverzwergungsmaschine für Videospiele, ein Eingeständnis der eigenen Beschränktheit, eine Kapitulation. Es ist das Äquivalent zu einem eingescannten Arbeitsblatt als Beitrag zur Digitalisierung der Bildung. Denn mit TWINE lassen sich die Abenteuer von Micky und Goofy nachbauen. Hui: Man blättert nicht, man klickt. Klicke hier, um den Tunnel entlangzugehen. Klicke hier, um deine Fackel anzuzünden. Klicke hier, um den Oger zu hauen. Haha, er haut zurück. Du bist tot. Klicke hier, um es noch einmal zu versuchen.

Doch halt. Hier kommt William Pugh, der The Stanley Parable und das wunderbare Dr. Langeskov, The Tiger, and The Terribly Cursed Emerald: A Whirlwind Heist mitverantwortet hat. Der Meister des Spiels mit der (nichtvorhandenen) Entscheidungsfreiheit in Videospielen und Geschichten. Und er widmet sich in seinem neuen Projekt Twine! Der Aufhänger: Noch nie habe jemand ein gutes Twine-Spiel entwickelt. Also wirklich gut, nicht „gut für ein Twine-Spiel“. Doch jetzt kommt er mit: The Temple of No! Wird er doch einen Weg finden, dieses alte, schreckliche Genre zu nutzen? Werden Videospiele einen Weg finden?

Nein. The Temple of No ist einfach genauso enttäuschend wie alle Entscheidungsabenteuer von Mickey und Goofy. Aber vielleicht wollte der William Pugh genau das sagen: Dass diese Geschichten schon immer scheiße waren.

Twine ist als eine Art Türöffner in das Medium der Videospiele gedacht. Niedrigschwellig für Entwickler:innen wie Spieler:innen. Aber hinter dieser Tür steht kein Haus mehr. Sie führt einfach nirgendwohin. Wer keine Videospielvorkenntnisse braucht, um ein Videospiel zu machen, macht vielleicht einfach kein Videospiel.


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