Alle 14 Sekunden tot

Es war Ende 2019, als ich ein neues Kapitel aufschlug. Nach einer Odyssee von Arztbesuchen ohne Ergebnis, entschied ich mich, meinen Vollzeitjob aufzugeben. Eine sichere Stelle, nicht wirklich mein Traum, mit viel zu langen Pendelfahrten, doch meine Arbeit und ich wurden sehr geschätzt.

An meinem gesundheitlichen Tiefpunkt angelangt, sah ich allerdings nur noch eine Lösung: das Leben neuordnen und Strukturen schaffen, in denen ich gesund werde. Dazu gehörte auch die Kündigung, denn die Arbeit rahmte den Großteil meines Tages. Eine Entscheidung, die ich mit Angst traf. Finanziell war es nicht klug, ich hatte keine Alternativen und wusste nicht, wie schnell ich mich überhaupt erholen würde. Es fühlte sich nach Aufgeben, Versagen und Scheitern an. Fragen plagten meine Nächte: Wie naiv bin ich eigentlich? Kann man unter großem Leidensdruck überhaupt überlegte Entscheidungen treffen – wenn man nur von Tag zu Tag denkt, und nicht versteht, warum das alles passiert?

Und dann schnappte ich in einem Sale zu, war Besitzer der Indie-Perle Celeste und saß vor meiner Switch. Schon lange hörte ich nur Gutes über das 2D-Jump ’n‘ Run. Celeste sollte sowohl spielerisch als auch storytechnisch beeindrucken. Mehr wusste ich nicht. Ein seltenes Geschenk in der heutigen Zeit voller Teaser, Trailer und Let’s Plays.

Ich drückte auf Start und traf die junge Madeline. Sie plante einen tödlichen Aufstieg zu dem Gipfel des Berges Celeste Mountain. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Wir sprangen, dashten und walljumpten über Abgründe, Stacheln und anderen Gefahren. Der kleinste Fehltritt bedeutete den Bildschirmtod.

Das Timing musste präzise sein und das Spiel war bockschwer, zumindest für einen mittelmäßigen Gamer wie mich. Es war aber zu keinem Zeitpunkt unfair, alle Fehler waren meine. Auf dem Weg nach oben lernte ich Madeline näher kennen. Sie kämpfte mit ihrer Unsicherheit und sogar mit Panikattacken.

Ihre inneren Dämonen personifizierten sich in ihrem Spiegelbild und wurden zu ihrer Gegenspielerin. Als wäre der Aufstieg an sich noch nicht schwer genug. Madeline war nun nicht nur die Heldin, sondern auch der Endgegner. Zum Glück war da noch der Wanderer Theo, den sie ab und zu traf. Er redete ihr optimistisch zu, stärkte sie und hielt ihre seelische Entwicklung in albernen Selfies fest.

10 Stunden und 52 Minuten mühte ich mich gegen den Berg und Madelines Ängste. Ich starb 2.823 mal. Alle 14 Sekunden war ich tot. Ja, es war frustrierend. Doch das Gameplay ist einfach zu motivierend, das Erfolgsgefühl zu verlockend. Die Lust Madeline durch die Hindernisse zu bringen und endlich den Gipfel zu sehen wurde immer größer.

Aber für mich war eines viel bedeutsamer: Ich gewöhnte mich ans Scheitern. Ich scheiterte so oft, dass es egal wurde. Anfangs ärgerte ich mich über mein Unvermögen. Doch viel wichtiger wurde der Neuversuch. Dass ich im Schnitt alle 14 Sekunden starb, bedeutete auch: Ich bekomme alle 14 Sekunden die Möglichkeit, es besser zu machen. Jeder Fehler war nötig, um weiterzukommen. Ohne die 2.823 Tode hätte ich den Gipfel nicht erreicht.

Überrascht davon meine Angst vor dem Scheitern mit einem Videospiel abzubauen, recherchierte ich über den Zusammenhang von Scheitern und Erfolg. Ich lernte, dass erst durch das Scheitern eine Transformation, eine Anpassung stattfinden kann und stellte somit die Weichen für den Erfolg. Mein gewohntes Handeln reichte nicht, um die Herausforderung zu meistern, und mit dem Neustart hatte ich die Möglichkeit, mein Handeln anzupassen. Ich würde es typisch Game Over und Restart nennen.

Bis dahin hatte ich noch nie einen Text geschrieben und veröffentlicht, aber ich wollte über meine Erkenntnis sprechen. Ich startete einen Blog, um über die Potenziale von Videospielen zu berichten. Zwei Monate später verkaufte ich bereits meinen ersten Artikel für ein Online-Magazin, gegen echtes Geld. Niemals hätte ich das erwartet. Ich schrieb über ein Forschungsprojekt, das mithilfe eines Videospiels professionelle Hilfskräfte und die Zivilbevölkerung auf Katastrophen vorbereiten sollte.

Ich hatte mein erstes Interview mit einer Wissenschaftlerin der Bundeswehr-Uni München. Nie war mein Impostor-Syndrom größer. Beschäftigte ich mich doch erst seit ein paar Monaten intensiv mit den Mechanismen von Games, hatte Null journalistische Erfahrung und bis vor acht Wochen noch nie einen Text geschrieben. Vor lauter Panik und Aufregung war ich fast ohnmächtig.

Und da war er wieder, der Celeste Mountain. Er türmte sich vor mir auf und tröstete mich zugleich. Wenn es schief geht, ist es kein Weltuntergang. Der Berg verschwindet nicht und ich finde eine neue Möglichkeit für den Aufstieg. Dazu kommt, dass ich wie Madeline auch einen Theo an meiner Seite hatte. Meine Freundin war ein zusätzlicher Fels in meiner aufgewühlten Brandung.

Und jetzt ein Jahr später, sitze ich vor dem PC und ziehe Bilanz. Ich bin jetzt selbstständig. Etwas, das ich aufgrund des fehlenden Sicherheitsnetzes nie wirklich in Erwägung gezogen hatte. Ein Jahr ist es nun eine reine Achterbahnfahrt. Losgelöste Freude über Erfolge wechselt sich mit der erschütternden Angst über die finanzielle Unsicherheit ab.

Aber ich stehe mir nicht mehr selbst im Weg. Wenn ich etwas interessant finde und verwirklichen möchte, probiere ich es. Im schlimmsten Fall starte ich von vorn. Und selbst die Neustarts machen Spaß, wenn man jeden Level dieses Spiels gerne spielt.

Mir ist bewusst, dass es nicht immer so läuft. Es ist eine Momentaufnahme. Ich komme aus einer privilegierten Situation, habe einen akademischen Abschluss und ein familiäres Umfeld, das mich unterstützt. Ich konnte mir diese Entscheidung vielleicht leichter erlauben, als andere. Doch ich bin immer noch etwas ungläubig, dass ich eineinhalb Jahre nach meinem gesundheitlichen Tiefpunkt meinen Lebensunterhalt mit journalistischen Inhalten und Videospielen bestreiten kann. Der Weg ist zwar noch lang, aber ich verdanke einem Videospiel, Fehler in einem anderen Licht zu sehen.

Immer wenn ich nun vor einer großen Herausforderung stehe, denke ich bewusst an Celeste, Madeline und den Berg. Dann atme ich etwas ruhiger und weiß: Das Game Over ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang.


Celeste wurde 2018 von dem Indie-Entwickler Matt Makes Games Inc. veröffentlicht. Das Spiel ist ein klassischer 2D-Plattformer  mit charmanten Charakteren und einer Story über Ängste und innere Dämonen. Die Steuerung ist recht simpel, offenbart aber Tiefe und Finesse, wenn man sich etwas eingehender damit beschäftigt. In Speedrunner-Kreisen ist es daher ein beliebtes Spiel. Die aktuell beste Zeit in der Kategorie Any% legte der User buhba aus England mit 26 Minuten und 29 Sekunden vor.

This post is also available in: Englisch

Share: