30 Minuten (plus Nachspielzeit)

Lob, Teambuilding, Geld oder kostenloser Kaffee – es gibt ganz unterschiedliche Wege, um die Mitarbeitermotivation zu erhöhen und die Untergebenen dadurch zu persönlichen Höchstleistungen anzuspornen. Bei meinem ehemaligen WG-Mitbewohner, der faktisch natürlich nicht mein untergebener Mitarbeiter war, gab es noch einen deutlich einfacheren Weg um seinen Ehrgeiz und Ansporn ins Unermessliche zu steigern: Trophäen. Für ihn war ein Spiel erst dann beendet, wenn er die Platin-Trophäe eingeheimst hatte. Und an Spielen mangelte es nun wirklich nicht: Durch meine damalige Arbeit für ein Videospielmagazin landeten fast wöchentlich neue Pressemuster im Briefkasten, zu denen natürlich zeitnah ein Review verfasst werden musste. Um in den Nächten ausgiebig spielen zu können, wählten wir unsere Seminare und Vorlesungen geschickt nach Uhrzeit aus: Veranstaltungen vor 14 Uhr waren keine Option.

Meist saß mein Mitbewohner auch dann noch vor der PlayStation, wenn ich am Abend aus der Uni kam. Aus heutiger Sicht könnte man ihn als Vorreiter des Fernlernens bezeichnen. Es wundert mich bis heute, dass er sein Mathestudium erfolgreich abschließen konnte. Klar, nicht mit Platin-Trophäe, aber wen interessiert das am Ende. Ich setzte mich dann also zu ihm auf das Sofa in unserer Wohnküche und schaute dabei zu, wie er manche Abschnitte und Herausforderungen unzählige Male wiederholte – nur um die gestellten Anforderungen für die jeweilige Trophäe zu erfüllen. Ich selbst hätte dafür keinen Nerv und vor allem keine Ausdauer gehabt. Aber die stoische Haltung meines Mitbewohners strahlte fast etwas Beruhigendes aus. Er war nie aufgebracht, sauer oder frustriert. Auch beim hundertsten Versuch war er die Ruhe selbst. Während der Ladezeiten tranken wir an unserem Bier. Gesprochen wurde wenig – ein kurzes Augenrollen, wenn ein Versuch aufgrund irgendwelcher Unwägbarkeiten wieder einmal scheiterte, war das höchste der Gefühle. Und so vergingen teilweise Stunden: Ich schaute zu und wurschtelte an den Reviews, während er um die begehrten Trophäen kämpfte.

In den Semesterferien 2010 hatte ich mich alleine mit God of War 3 vergnügt und meinem Mitbewohner anschließend davon vorgeschwärmt. Auch er hatte großen Spaß an der Götterschnetzelei und ich hatte ihn im Vorfeld gebrieft (natürlich spoilerfrei), dass er am Ende auf keinen Fall aufhören dürfe den Kreis-Knopf zu drücken. Für 30 Minuten. Nur dann würde er die letzte Trophäe freischalten und das Spiel mit Platin abschließen können. Das war natürlich gelogen und frei erfunden. Als er Zeus schließlich besiegt hatte, wechselte das Spiel in die Ego-Perspektive. Kratos kann nun all seinen Hass am Göttervater auslassen: Beim Drücken des Kreis-Knopfes schnellt dessen Faust unbarmherzig in das Gesicht des besiegten Zeus. So lange und so oft der Spieler möchte.

Nach 35 Minuten waren seine Geduld und Kraft am Ende. Seine Reaktion auf die Auflösung meines Bluffs, der ihn gerade 35 Minuten Lebenszeit gekostet hatte, war der eines professionellen Trophäenjägers aber absolut würdig: „So bescheuert, dass sie dafür keine Trophäen-Belohnung eingebaut haben.“


Statt einer Platin-Trophäe gab es für die Prügelei mit Zeus lediglich einen kleinen Vermerk (siehe Titelbild) auf der WG-Pinnwand. Die Platin-Trophäe hat sich mein Mitbewohner später aber natürlich dennoch geholt. Im 2018 erschienenen Reboot der God of War-Reihe kämpft Kratos nicht mehr gegen die Götter des Olymps – stattdessen mischt er nun, wie auch in der 2021 erscheinenden Fortsetzung, die nordische Mythologie auf.

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