20 Minuten

Mein Grundschul-Ich hatte eine ziemlich einfache Definition davon, was Reichtum bedeutet: Martin, mein bester Grundschulfreund, war reich. Martin hatte zwei riesige Kisten neben seinem Super Nintendo stehen: 40 Spiele. Importspiele-Adapter. SNES-Maus. Super Scope-Lightgun. Multitap. Ich war so neidisch auf seinen Multitap! Ein Mehrspieleradapter, mit dem man mehr als die zwei vorgesehenen Controller am Super Nintendo anschließen konnte. Theoretisch hätte man so (wenn man zwei Multitap-Adapter miteinander kombiniert!) mit acht Freund*innen gemeinsam spielen können. Praktisch gab es aber keine Spiele, die mehr als fünf Spieler*innen gleichzeitig unterstützten. Und ehrlicherweise war die Anzahl an qualitativ brauchbaren Spielen mit Multitap-Unterstützung sehr überschaubar. Dass Secret of Mana bis heute zu den besten RPGs gezählt wird, verdankt das Spiel wohl hauptsächlich eben jener Multitap-Unterstützung. Eine Einzelspielererfahrung verklärt man für sich allein – eine Mehrspielererfahrung verklärt man gemeinsam mit anderen.

Martin, Stefan und ich haben wochenlang nichts anderes gespielt; über nichts anderes gesprochen; über nichts anderes nachgedacht. Secret of Mana war für uns damals ein – im wörtlichen Sinne – einzigartiges (kooperatives!) Mehrspieler-Erlebnis. Normalerweise musste immer jemand zuschauen, während sich die anderen beiden mit Mario Kart, Street Fighter oder Super Double Dragon vergnügten. Für 20 Minuten. Dann wurde gewechselt und der Controller weitergereicht. So hatten wir das irgendwann mal abgemacht. Fair! Und dennoch waren es jedes Mal quälend lange 20 Minuten. Das war durch Secret of Mana nun vorerst hinfällig geworden. Endlich konnten wir alle gleichzeitig spielen. Stundenlang und ohne Pause.

Irgendwann war die Grundschulzeit vorbei. Wir gingen auf verschiedene Schulen und trafen uns nicht mehr zum Spielen. Die Interessen hatten sich unterschiedlich entwickelt; die Freundeskreise hatten sich gewandelt. Typisches Auseinanderdriften eben – alles ohne Wehmut. Wenn wir uns in den nächsten Jahren bei Dorffesten oder Geburtstagsfeiern über den Weg liefen, gab es kaum gemeinsame Themen. Ein bisschen Videospiel-Smalltalk, ein bisschen Secret of Mana-Nostalgie-Kutschfahrt. Bei einer dieser Begegnungen erzählte Stefan, dass es auf eBay deutschsprachige SNES-Module von Secret of Mana 2 zu horrenden Preisen zu kaufen gäbe. Eine inoffizielle Fan-Übersetzung des nur in Japan erschienenen Nachfolgers, die von einem Nutzer mit Kopierstation nun auf Module gepresst und verkauft wurden. Als ROM für die gängigen SNES-Emulatoren auf dem PC übrigens auch kostenlos zu finden. Aber wo bleibt da der Reiz? Der Nostalgiefaktor? Der Multitap-Adapter?

Die eBay-Produktbeschreibung aus dem Jahr 2003 lautete: „Erlebe den offiziellen Nachfolger von Secret of Mana auf deinem Super Nintendo! […] Erstmals gibt es Secret of Mana 2 in deutscher Übersetzung – spiele allein oder gemeinsam mit zwei Freunden (Mehrspieleradapter benötigt!) […] Streng limitierte Auflage!“

Wir haben es dann tatsächlich gekauft. Haben uns bei Martin getroffen, den Super Nintendo angeschlossen, den Multitap-Adapter angestöpselt, das Spiel gestartet und uns so zurück in die Grundschulzeit gebeamt. Und es war gut! Für ein paar Minuten zumindest. Dann hatten Martin und ich eben jenen Magier befreit, der von nun an als dritter Hauptcharakter zu unserer Gruppe zählte. Egal, was und wie lange wir es versuchten: Stefan konnte ihn nicht steuern – die KI hatte die komplette Kontrolle über den Magier. Reset. Anderer Controller. Modul pusten. Neuer Speicherstand… alles zwecklos. Im Vergleich zum Vorgänger unterstützt Secret of Mana 2 keinen Mehrspieleradapter – es lässt sich lediglich zu zweit spielen. Große Ernüchterung machte sich breit und uns wurde schlagartig klar, dass es nur eine einzige Lösung für dieses unüberwindbare Problem gab: Nach 20 Minuten wurde ein Controller weitergereicht. Einer von uns musste nun 20 Minuten pausieren. Quälend lange 20 Minuten.


Anmerkung 1: Das 1994 für den Super Nintendo erschienene J.R.R. Tolkien’s The Lord of the Rings, Vol. 1 ermöglicht per Cheat eine 8-Spieler-Multitap-Unterstützung. Einer der Charaktere kann sich dann aber nur bewegen und Schaden nehmen, selbst aber nicht aktiv eingreifen.

Anmerkung 2: Ja, es heißt „der“ Super Nintendo.

Anmerkung 3: Secret of Mana 2 ist redundant und gähnend langweilig.

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