Als ich mich im Jahr 1991 im Finale des zweiten Abenteuers von Guybrush Theepwood befand, hatte ich keine Distanz mehr zur Handlung. Ich war im Bann der Geheimnisse und Schauplätze, des sehr gruseligen Geister-/Zombiepiraten LeChuck und der charakterstarken Figuren, die ich auf den vielen Inseln traf . Bis heute ist meine Vorstellung von der Karibik erstaunlich intensiv von diesen ausdrucksstarken Spielen geprägt. Nun stand die finale Konfrontation mit dem Nemesis LeChuck an. Weil ich all die kleinen absichtlichen Unstimmigkeiten und Hinweise auf das Ende des Spiels in meiner kindlichen Arglosigkeit nicht bemerkt hatte, floh ich panisch durch die seltsam unkaribischen Gänge, während ich versuchte, eine Voodoopuppe zusammenzubauen, um LeChuck ein für alle Mal zu besiegen.
Als ich endlich bereit war, zog das Spiel den Teppich unter meinen Füßen weg: Es war nicht echt. Nichts davon. LeChuck ist Chuckie, Guybrushs gemeiner älterer Bruder und Guybrush hatte, während die beiden mit ihren Eltern auf dem Jahrmarkt waren, die ganze Geschichte erdacht und durchgespielt, um in seiner Fantasie den Spieß umzudrehen und seinem Bruder das Fürchten zu lehren. Monkey Island 1 und 2 ist die Rachefantasie eines kleines, gemobbten Jungen. Es war damals eine gigantische Enttäuschung. Doch kurz vor Schluss blitzten die Augen von Chuckie rot auf. Nun wusste ich endgültig nicht mehr, was ich davon zu halten hatte und verdrängt diese Szene fortan. Dass alles nicht passiert war, war für mich nicht passiert. Die Welt von Monkey Island existierte. Als dann Monkey Island 3 herauskam, war ich zwar froh, dass mir das Spiel darin offenbar Recht gab, weil Guybrush und LeChuck sich weiterhin auf karibischen Inseln bekriegten, aber die Art, wie die Story weitergeführt wurde, hinterließ in meinem etwas gereiften Gehirn einige Fragezeichen. Als ich dann erfuhr, dass Schöpfer Ron Gilbert am dritten Teil nicht beteiligt war und andere Ideen für den Abschluss der Reihe hatte, wurden meine Zweifel nur stärker.
Wer im kritischen Diskurs über narrative Werke wie Filme, Serien oder Videospiele bestehen möchte, kann zu einem Allgemeinplatz greifen. „Der Bösewicht war nicht dreidimensional genug, er hatte gar keine Motivation.“ „Es war mir egal, ob die Protagonistin stirbt, sowas spricht immer für mangelnde Immersion.“ „Wenn am Ende rauskommt, dass alles nur ein Traum war, brech‘ ich ab!„
Nicht erst seit Lost ist das Deus-Ex-Machina-Plotdevice in Verruf geraten. Aus dem Hut gezauberte Wendungen sind verpönt. Diese einfachen Meinungen gründen auf sinnvollen Ansichten: Gutes Storytelling kündigt Wendungen dezent an (foreshadowing) und verwurzelt die Entwicklung des Plots in den Eigenschaften der Figuren (character driven). Nur plappern manche Menschen plausible Thesen einfach nach, ohne sie zu verstehen. Und kommen dann an den Punkt, an dem ich 1991 war: Das Ende von Monkey Island sei eine Frechheit, weil es ein hohler Twist ist, der sich um ein richtiges Ende herumdrückt.
Aber ist das wirklich so? Als ich 25 Jahre später die Special Editions beider Spiele spielte, war ich nicht nur erstaunt über die Qualität der Spiele, die ich nun auf einer ganz anderen Ebene erkennen und wertschätzen konnte, ich sah vor allem das Ende des Spiels in einem anderen Licht. Monkey Island kommt aufgrund seiner Tonlage mit allen Absonderlichkeiten davon. Monkey Island 1 und 2 sind Geschichten, die sich ein Kind hätte ausdenken können. Sie sprengen die Grenzen der Logik, sind aber umso fantasievoller und plastischer. Was man einem Autor:innenteam als unplausibel um die Ohren hauen würde, löst Begeisterung aus, wenn es der Ideenwelt eines Kindes entspringt.
Damit erklärt sich das unbeholfene Auftreten von Guybrush, die vielen Klischees und Anachronismen wie moderne Technologie. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr solcher Elemente bemerkte ich. Es gibt einen merkwürdigen Tunnel, der zwei Inseln verbindet und gar nicht in die Welt passt – weil für ein Kind ein Tunnel eben auch ein geheimnisvoller Verbindungsweg zwischen zwei Inseln sein kann. Das erste Spiel beginnt damit, dass Guybrush einfach so auf einer ihm fremden Insel aufschlägt mit dem sonderbaren Wunsch, Pirat zu werden. Er muss Mutproben bestehen, verliebt sich (erfolgreich) in die einzige Frau und schlägt den bösen Tyrann in die Flucht. Die vierte Wand wird laufend durchbrochen und Guybrush selbst gibt eindeutige Hinweise darauf, dass es sich bei dem Abenteuer um ein Spiel handelt. Guybrush kann zehn Minuten die Luft anhalten und wenn auch das nicht reicht, weil er mit einem Steinblock am Bein auf dem Meeresgrund steht, steckt er den Stein einfach ein und taucht auf. Es ist Kinderlogik. Und es ist genau diese Logik, die so viel von dem Reiz der Reihe ausmacht.
Denn es funktioniert natürlich auch alles ohne diese narrative Ebene als grandioser Unfug, nur erhält das Spiel dadurch plötzlich sogar eine gewisse Tiefe, ganz ähnlich dem Ende des LEGO-Films, das viele Aspekte der Geschichte im Nachhinein aufwertet. In diesem Sinn ist das Ende keineswegs aus dem Hut gezaubert. Es war nicht bloß ein Traum, es bedeutet etwas. Und hat mehr Gewicht als eine Geschichte über einen Typen, der Pirat werden will und auf ulkige Weise ans Ziel kommt. Überall im Spiel finden sich Hinweise auf das Ende. So sucht Guybrush nach dem großen Schatz, doch was er findet, ist eine Eintrittskarte in eine „andere Welt“, in der Guybrush „vor dem Zorn LeChucks sicher ist“ Das ist der Wunsch des echten Guybrush: Die Flucht in eine Welt, in der er nicht von seinem Bruder herumgeschubst wird. Das Finale findet dann tatsächlich in den Kellerräumen des Freizeitparks statt.
Doch so, wie mir 1991 der Freizeitpark die Illusion genommen und Chuckies rot blitzende Augen Hoffnung gegeben haben, sind es nun genau diese roten Augen, die mir übel aufstoßen. Ich gehe nicht davon aus, dass dieses Ende schon beim Schreiben von Monkey Island 1 geplant war. Dafür ist der erste Teil viel zu ernst und stimmig in seiner Karibikwelt. Und trotzdem hat Ron Gilbert es vollbracht, ein stimmiges Gesamtwerk zu schaffen, das beide Teile aufwertet. Doch warum nur lässt Gilbert dann Chuckies Augen blitzen? Das ist der wirklich billige, hohle Twist, die Hintertür für ein „Ätsch, war doch der Gruselpirat mit einem Fluch, der dich hat glauben lassen, dass ihr nur Brüder seid“. Und im Grunde ist das die Schiene, die Teil 3 ein bisschen verschämt verfolgt.
Das finde ich falsch. Wenn schon, denn schon. Und so wie ich damals beschlossen habe, dass die Welt von Monkey Island echt ist und der Geisterpirat noch immer sein Unwesen treibt, so entschließe ich mich heute dafür, Chuckies rote Augen für eine Lichtreflektion zu halten. Monkey Island 1 und 2 sind eine abgeschlossene Geschichte und alles, was danach kommt, sind wunderbare Spin-Offs mit geringem narrativen Wert.
Nachdem ich meine Liste der 30 Spiele aus 30 Jahren veröffentlicht habe, hielt ich es für eine gute Idee, zu jedem Spiel einen Text hier auf Wall Jump zu schreiben. Mal sehen, wie lange ich das durchziehe.
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