10 Minuten

Erziehungswissenschaftler halten eine gewisse Geschwisterrivalität für grundsätzlich normal. In Folge von übersteigertem Konkurrenzdenken können allerdings auch Verletzungen geschehen und Schmerz oder Wut entstehen, die sich zu Missgunst und Hass steigern können. Die Geschwisterrivalität zwischen meinem Bruder und mir war in all den Jahren nie sonderlich ausgeprägt – wir kamen fast immer gut miteinander klar. Fast. Denn unser „gallisches Dorf“ war die jährliche Fußballsimulation aus dem Hause Konami. Zwar spielen wir die aktuellen Ableger der Pro Evolution Soccer-Reihe (mittlerweile in eFootball umbenannt) immer noch gegeneinander – nach dem Auszug aus dem Elternhaus aber nur noch online. Seither sind Wut, Hass und Missgunst weniger geworden – bei den Duellen im Kinderzimmer war damals deutlich mehr Pfeffer drin. Viel mehr. Viel zu viel.

Knackpunkt war immer die letzte Partie. Egal, ob wir fünf oder zwanzig Partien am Stück gespielt hatten – das letzte Spiel war immer der Grund dafür, dass wir oft tagelang nicht mehr miteinander sprachen. Wir waren selbst schuld. Wir hatten die letzte Partie emotional zu sehr aufgeladen. Nach dem „Alles oder nichts“-Prinzip kürten wir mit dem letzten Spiel den jeweiligen Pro Evolution Soccer-Tagessieger. „Tag-Niederlage-Sieg“ hieß das bei uns. Merkwürdiger Name. Auch merkwürdig, dass diese Partie irgendwann wirklich so eine emotional wichtige Bedeutung in unseren Köpfen einnahm. Anspannung und Konzentration waren bei dieser alles entscheidenden Partie auf Maximum – die Länge der eigenen Zündschnur hingegen auf ein Minimum geschrumpft. Um sich einen psychologischen Vorteil zu verschaffen, wurden die Trigger-Punkte des anderen – die man als Bruder natürlich nur zu gut kennt – nicht nur gedrückt, sondern regelrecht mit dem Presslufthammer beackert. Zehn Minuten. Fußball. Zehn alles entscheidende Minuten. Verdammt wichtig.

Die Gefühlswelt dieser zehn Minuten in klassischer Textform aufzuschreiben, gelang mir nicht. Es wurde meiner Perfidität im Falle eines Sieges der „Tag-Niederlage-Sieg“-Partie nicht gerecht. Erst mit der Formulierung einer Schritt-für-Schritt-Anleitung hatte ich den Eindruck, mein perfides Drücken der brüderlichen Trigger-Punkte nachvollziehbarer gestalten zu können: Zwei Do-It-Yourself-Rezepte anhand zweier „Tag-Niederlage-Sieg“-Szenarien. Nachkochen erlaubt.

Szenario 1: Das Siegtor in der letzten Sekunde
Controller genüsslich und langsam in die Luft recken. Kein Wort sagen, den Bruder keines Blickes würdigen. Langsam aufstehen und den Raum verlassen. Vor der Tür laut „Boom! Unbesiegbar!“ schreien. Vor der Tür warten. Lange warten. Währenddessen den Stick des Controllers für ein paar Sekunden nach links drücken und dann wieder nach rechts. Dadurch wird die Wiederholung des Treffers (die nur der Torschütze wegdrücken kann) noch einmal von vorne abgespielt. Anschließend mit zaghaften Schritten den Raum betreten und wortlos hinsetzen. Nach hinten lehnen. Den direkten Abpfiff nach dem Anstoß abwarten. Controller genüsslich in die Luft recken. Kein Wort sagen, den Bruder keines Blickes würdigen. Bruder verlässt den Raum wortlos und knallt die Tür. Ein paar Sekunden abwarten und erneut laut (es muss für den anderen unbedingt hörbar sein!) „Boom! Unbesiegbar“ schreien. Konsole ausschalten.

Szenario 2: Eindeutiger Start-Ziel-Sieg
Die kompletten zehn Minuten Spielzeit darauf hinweisen, dass man den anderen nicht nur locker besiegt, sondern ihn absolut beherrscht. Dazu in unregelmäßigen Abständen „Totale Dominanz!“ schreien. Das schöne Aufbauspiel bei ausreichend deutlicher Führung einstellen und stattdessen jeden Ball nur noch wild, weit und hoch nach vorne ballern. Dabei Fußball-Phrasen à la „Hoch und weit bringt Sicherheit“ dreschen. Jeden Torabschluss des anderen loben, wobei der Zynismus zwar spürbar sein muss, dabei aber nicht zu sehr herausgestellt wird. Gegen Ende zum Todesstoß ansetzen und dem Bruder genervt zuraunen: „Spiel‘ doch mal richtig. Oder sag‘ halt vor der Partie, dass du keine Lust mehr hast.“ Währenddessen die eigentliche Spiel-Körperhaltung aufgeben und die letzten Minuten aus dem Liegen heraus die Bälle nach vorne bolzen. Zeitgleich mit dem Abpfiff noch ein gut hörbares „Das war deutlich.“ nachschieben und dabei Blickkontakt suchen. Ein „Soll ich die Konsole noch anlassen, damit du noch ein bisschen üben kannst?“, während der Bruder das Zimmer verlässt, sorgt für ein abgerundetes Hass-Gesamterlebnis.


Fussball, mein alter Kumpel Fussball. Ich glaube nicht an Zufall. Ich glaube an dich, Fussball, Fussball.

This post is also available in: Englisch

Share: