Nervtötende Schlauberger weisen mich gerne darauf hin, was für eine Mogelpackung Lebensmittelfotografie sei. Ich wisse schon, dass der Burger in Wahrheit nicht so aussähe. Mit den Bildern würde man nur die Konsumopfer in die Irre führen. Ihr väterliches Gehabe geht einher mit einer Mir-Kann-Keiner-Was-Attitüde. Sie sind smarter als der Rest, denn sie haben schonmal das Bestellte mit dem Foto vergleichen. So eine unwahrscheinliche Kombinationsgabe findet man ja auch wirklich selten.
Ich mag Lebensmittelfotografie. Je übertriebener, umso besser. Ich gucke mir gerne Bilder von schönem Essen an. Gerade bei Fast Food. Welches wirklich gute Restaurant bildet sein Essen ab? Wer seine Gerichte fotografiert, hat es nötig. Und das ist OK. Wenn man dann fotografiert, bitte ansehnlich. Denn was ist die Alternative? Realistische Imbissfotografie? Die gibt es und das kann keiner wollen. Es sind schlecht aufgelöste, graublau-vergilbte Plastiktafeln. Eine Kakophonie aus fetttriefenden Panadekrusten und glänzenden, dickflüssigen Saucen. Tomaten ohne Farbe. Brot ohne Körperspannung. Wer glaubt, in einem Stehimbiss einen Burger zu bekommen, der aussieht als müsste man ihn auszeichnen, muss Erwartungsmanagement betreiben.
Es muss so ein Lebensmittelfotografiekritiker gewesen sein, der sich an irgendeiner prominenten Stelle im Internet bemüßigt fühlte, über das Artwork von In Other Waters herzuziehen. Das Spiel sehe ja gar nicht aus wie auf dem Artwork. Man sehe ja nur das User Interface! Nochmal falle man nicht auf Indies rein, die nur so tun als wären sie echte Spiele. Aber auch das ist in Ordnung, denn das Welterklärerhirn dieser Menschen würde nie die feinen Nuancen genießen können, die andere Gewässer bieten.
In Other Waters besteht grafisch ausschließlich aus dem, was in anderen Spielen Informationsbeiwerk ist. Eine Karte, ein Radar, ein Inventar, Textfenster. Man spielt eine künstliche Intelligenz im Tauchanzug einer Meeresbiologin, die ihre auf einem fremden Planeten verschollene Kollegin sucht. Dabei versucht sie, die komplexen Zusammenhänge der ihr unbekannten Biosphäre zu verstehen und zu ihrem Vorteil zu nutzen. Nicht nur spricht aus dem Spiel ein unbändiger Forschungsdrang, es regt auch wie wenig andere Spiele die Fantasie an. Das Artwork des Spiels ist nur ein möglicher Ausdruck dessen, was im Kopf passiert, wenn man in diese fremden Gewässer abtaucht.
Ich habe es vor zwei Jahren gespielt und noch immer meine eigenen Bilder der überschwemmten Forschungsstation vor Augen, die Schwärme von schimmernden Lebewesen, die grazil durch die Weiten des Meeres gleiten. Ich kriege leicht schwitzige Hände, wenn ich daran denke, wie ich mir die Natur zunutze gemacht habe um reißende Strömungen für einen Moment zu bändigen und in unbekannte Regionen vorzudringen. In all dieser Zeit war mein einziger visueller Input ein Punkt auf einem Radar. Doch ich weiß genau, wie es dort aussah. Und wenn sich der Punkt an einem bestimmten Ort der monochromen Karte befand, spürte ich Beklemmung – und Entspannung, wenn er zurückkehrte. Ich habe seltene Funde gemacht, viel über Meeresbiologie gelernt, eine alte Zivilisation erforscht und als KI meine Partnerin kennengelernt.
Es ist eigentlich eine Qualität von Büchern, über Leerstellen den Geist anzuregen. Das gezielte Auslassen von Beschreibungen kann gewaltige Kraft auf Leser:innen ausüben. Videospiele neigen dazu, Leerstellen auszufüllen, weil sie alles darstellen können. In Other Waters hingegen nutzt einen ähnlichen Effekt wie bestimmte Literatur. Es spielt keine Rolle, ob es eine technische Limitierung, ein geringes Budget oder eine kreative Entscheidung war: Es funktioniert und hat mich eine Welt in meinem Kopf entstehen lassen, mit der ich mich verbunden fühle und die mehr nachhallt als viele grafisch dargestellte Orte aus Videospielen.
Das Artwork hat keineswegs zu viel versprochen, ganz im Gegenteil. Wie bei einem guten Plattencover hat es sich mit der Erfahrung verbunden und sie angereichert. Aber die Schlauberger würden mir wohl auch erklären, dass solche Bilder gar nicht aus meinen Boxen herauskommen würden, sondern bloß Musik.
In Other Waters (2020) ist das Debutwerk vom britischen Studios Jump Over the Age, die letztes Jahr mit Citizen Sleeper offenbar direkt die nächste Granate nachgelegt haben. Das habe ich mir für dieses Jahr vorgenommen. Aber ich wurde gewarnt: Da würfelt man. Würfeln! Da kann man ja gleich Kniffel spielen. Ha ha.
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