Der dümmste Grund, kein Spiel zu machen

Ausufernde Dinge sind gefährlich für mich. Jahrelang habe ich digitale Stores gemieden, um zu verhindern, dass ich mich mit Tonnen an Spielen aus Sales zumülle, die ich nie spielen werde. Obwohl ich begeistert Warcraft II und III gespielt hatte, dachte ich mit 18 Jahren nicht einmal eine Sekunde lang daran, bei World of Warcraft einzusteigen. Ich kannte meine Schwächen und wusste es besser.

Diese guten Vorsätze laufen unterschiedlich gut. Besonders versagt habe ich bei den digitalen Stores. Meine Bibliotheken platzen inzwischen aus allen Nähten. Ich höre ständig von angeblich oder tatsächlich lohnenden Spielen und insbesondere der Indiebereich hat es schwerer gemacht, den Überblick zu behalten. Doch er ist nur die Spitze des Eisbergs. Indies sind längst im Mainstream angekommen und die Grenzen verwischen, wenn große Firmen Titel kleiner Teams vertreiben, um ihr Portfolio aufzujazzen. Irgendwann wurde mir bewusst, dass unter der Oberfläche des blitzeblank polierten Marktes, in dem sich Shovel Knight und der Master Chief die Hand reichen, tiefe und finstere Abgründe auftun. Unzählige unbekannte Spiele, Strömungen, Szenen, Subkulturen. Da oben habe ich meine einschlägigen Magazine, Metacritics und YouTube-Kanäle, die mir alles schön übersichtlich aufbereiteten. Ich habe Kontrolle.

Deshalb verschreckte mich der Blick in die Dunkelheit der „Sub-Indies“. Würde ich hinabsteigen, wäre ich verloren und orientierungslos, Augen würden mich anglotzen und Verlockungen in alle Richtung zerren. Breath of the Wild wäre nichts dagegen. Ich schlug die Tür zum Keller zu und machte es mir vor dem Kamin gemütlich mit Hollow Knight und God of War. Doch die Saat war gesät. Ich spiele nicht nur, ich beschäftige mich mit Spielen und mit den kulturellen Implikationen. Ich will Experte, kein Idiot sein, der am Rande steht, während all die höchnäsigen Intelektuellen mich belächeln! Ich wusste nun von diesem weiten Ozean und dass sich darin vermutlich unkompromittierte Spieleerfahrungen tummeln, weit weg vom glitzernden Markt, dessen Konsumopfer ich bin. Aber es ist so bequem vor dem Kamin.

Und so habe ich auch immer einen großen Bogen um Game Jams gemacht. Es ist ein Fass, das ich aus Selbstschutz nie zu öffnen gewagt habe, denn jeder einzelne Game Jam bringt mehr Spiele hervor als EA in einem Jahrhundert schaffen würde. Die niedrigschwellige Plattform itch.io ist der endlose Kosmos dieses Wahnsinns. Tausende von Spieleentwicklern hauen jeden Tag immer neue Spiele raus, von denen man noch nie etwas gehört hat. Ich blieb stark und behandelte itch.io wie World of Warcraft.

Bis zum Sommer 2019. Ich folge mit Begeisterung Mark Browns YouTube-Kanal „Game Maker’s Toolkit“, der kluge Game-Design-Analysen bietet. Mark Brown veranstaltet darüber hinaus seit einigen Jahren seinen eigenen Game Jam – auf itch.io – und betreibt einen Discord-Server, auf dem sich ein Haufen ebenso kluger und sympathischer Menschen zum täglichen Austausch treffen. Im Sommer 2019 entstand anlässlich des diesjährigen Jams eine freudige Unruhe auf dem Discord-Server und der direkte Kontakt zu den Leuten zog mich mit. Da die Entwickler und die Spiele kein unheimliches dunkles Meer voller Wunder und Monster waren, sondern die guten Menschen vom GMTK Discord, konnte ich mich darauf einlassen. Und was für ein Gewinn das war.

Einzelpersonen oder Teams machten sich daran, in 48 Stunden ein spielfähiges Produkt zu einem vorgegebenen Thema zu fertigen. Obwohl ich nicht aktiv daran teilnahm, folgte ich gebannt dem Fortschritt der vielen Teams, als ihre ersten Ideen zerbröselten und sie mit ungelösten Problemen für wenige Stunden schlafen gingen, um sich danach mit ungebremster Leidenschaft auf die Zielgerade begaben. Mehr als 2.600 Spiele wurden eingereicht und fortan gab eine Woche lang die Gelegenheit, die Spiele zu spielen, zu bewerten und sie zu besprechen, bevor die Gewinner bekannt gegeben wurden. Aufgeregt wurden Spiele verlinkt, die entdeckt und für gut befunden wurden und alle freuten sich für die anderen, wenn deren Spiele gut abschnitten.

In der kommenden Woche verbrachte ich einen Großteil meiner Zeit damit, Einreichungen zu spielen, dies zu streamen und mit den Entwicklern über ihre Werke und Erfahrungen zu sprechen. Es waren gute Spiele dabei, die das Potenzial zu einem vollwertigen Release hatten. Viel wertvoller aber waren die Einblicke in den Entwicklungsprozess und die bisherigen Erfahrungen der Entwickler. Ich hatte nie zuvor solche persönlichen Einblicke in das Erschaffen von Spielen. Schließlich war ich zuvor bloß der unmündige Konsument auf der anderen Seite. Wir tauschten uns noch Monate nach dem Jam aus, längst nicht mehr nur über Videospiele. Wir hatten alle eine gemeinsame popkulturelle Basis, aber im Laufe der Zeit stellte sich heraus, wie unterschiedlich und verstreut über die Erde wir ansonsten lebten. In dieser intensiven Woche habe ich viel gelernt und nahm neue Perspektiven ein: Als mich eine Entwicklerin fragte, ob ich auch ein Spiel gemacht hätte, verneinte ich, ich sei kein Entwickler. Ihre Antwort: „Das ist der dümmste Grund, kein Spiel zu machen.“ Jeder sei Entwickler, solange er Interesse daran habe. Und es gäbe so viele Betätigungsfelder. Ich könnte Dialoge schreiben, Demos testen, Musik kreieren, Ideen sammeln und Konzepte schreiben.

Ich war gerührt von dieser Sichtweise. Tatsächlich hatte ich nicht mal an die Möglichkeit gedacht, mich einzubringen. Das ist eine Denke wie bei „Ich kann kein Mathe“, weil man in der Schule eine 5 hatte: Unsinn. Jeder kann etwas beitragen. Man muss nicht erst etwas studiert haben oder ein Technikexperte sein. Man braucht keine Noten und Abschlüsse, um ein wertvolles Mitglied einer Gesellschaft zu sein. Und man braucht auch keine Programmiererskills, um dabei zu helfen, ein lustiges, interessantes oder innovatives Spiel zu erschaffen. Und so habe ich den ganzen Jam und die gesamte Community wahrgenommen: Es gab keine Konkurrenz oder Missgunst. Es sind Menschen, die die oftmals mit Schwierigkeiten in Ihrem Leben zu kämpfen haben und aus Leidenschaft Spiele entwickeln. Die keine Erwartungen an Erfolg haben und kein Geld für ihre Werke wollen, sondern lediglich etwas erschaffen. SIe wollen lernen und besser werden. Und vielleicht, dass jemand ihre Spiele spielt und sie sogar mag. Ich habe selten so viel geballte Positivität erlebt. Und dieser Sommer 2019 hallt noch immer nach. Ich bin dankbar, irgendwie dabei gewesen zu sein. Vielleicht kann ich wirklich einmal dabei helfen, ein Spiel zu erschaffen. Doch allzu oft ist es auch einfach schön, im warmen Zimmer zu sitzen. Mit einem Tee. Und Doom.


Seit 2017 wird der GMTK Game Jam jährlich von Mark Brown auf itch.io veranstaltet. Das jeweilige Motto bringt ganz unterschiedliche Ideen hervor – von Puzzlern bis hin zu narrativen Comedy-Games. 2019 bracht der itch.io-Server zwischendurch zusammen, weil es der größte Jam war, der dort je veranstaltet wurde – bis der Rekord ein Jahr später erneut von GMTK eingestellt wurde. Einige der im Jam entstandenen Spiele sind inzwischen als Vollversionen auf Steam oder im Nintendo eShop erhältlich. Ich habe keinen Kamin.

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